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Die Gesellschaft habe die Pflicht, kein Kind in Armut aufwachsen zu lassen, sagt der Philosoph Gottfried Schweiger. Güter stünden ihm aus Gerechtigkeitsgründen zu.

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Gottfried Schweiger: "Der zufälligste Faktor - wo ich geboren bin - spielt die größte Rolle bei Armut. Das ist ein großes Problem."

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STANDARD: Über 200.000 Kinder sind in Österreich statistisch gesehen armutsgefährdet - wie deuten Sie das aus philosophischer Sicht?

Schweiger: Bei Armut geht es immer darum, dass es ein Zuwenig gibt an Gütern und Möglichkeiten, die man für wichtig hält. Einkommen steht nur stellvertretend dafür, was zu einem guten Leben gehört. Armut bezieht sich immer auch auf das soziale Arrangement. Gesundheit und Armut hängen sehr eng zusammen, aber Krankheit allein würde man nicht als Armut verstehen, weil sie einem Menschen zustoßen kann, ohne dass das soziale Gefüge dafür verantwortlich ist. Menschen müssen nicht arm sein, aber es wird immer so sein, dass manche krank sind. Armut ist ein Mangel, den man ändern kann. Deswegen ist Armut so ein großes moralisches Übel, weil wir wissen, dass sie nicht sein müsste.

STANDARD: Kinderarmut blieb in der Philosophie bisher unterbelichtet - warum?

Schweiger: Kinder sind in der Philosophie ein schwieriges Thema, weil sie einige Kriterien nicht erfüllen, die man in moralischen Theorien verwendet. Die meisten Theorien zu Gerechtigkeit sind sehr abstrakt: Es gibt Gedankenexperimente, in denen Menschen nicht real, sondern rein rational handelnde Personen sind. Kindern fehlt diese Rationalität. Deswegen tut man sich schwer, ihnen Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung für sich selbst zuzuschreiben - doch das sind wichtige Bedingungen für moralisches Handeln. Die Philosophie behandelt Kinder oft wie Objekte. Damit wird nachvollzogen, dass die Gesellschaft Kinder als Anhängsel der Eltern sieht.

STANDARD: Ist das auch ein generelles Problem der Armutsforschung?

Schweiger: In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist man da weiter, weil sie näher am Subjekt ist und mit Kindern direkt arbeitet. Die Philosophie ist weiter weg, da sie mit Gedankenexperimenten und Konstruktionen arbeitet.

STANDARD: Sie haben seit April ein FWF-Projekt zu Kinderarmut laufen. Welche Fragen interessieren Sie dabei?

Schweiger: Was wir uns ansehen, ist, welche Pflichten und Verantwortungen wir gegenüber Kindern haben, die in Armut leben. In der EU wird Armut neben dem Haushaltseinkommen auch mit sogenannten "Deprivationsindikatoren" gemessen. Man gilt als depriviert, als beraubt, wenn man sich drei von neun wichtigen Gütern wie Farbfernseher, Telefon oder Urlaub nicht leisten kann. Was uns interessiert, ist dabei nicht, wie man Armut am besten messen kann, sondern was durch solche gängigen Messmethoden zum Ausdruck kommt. Was sagt es über eine Gesellschaft, wenn in ihr viele Kinder in einem Haushalt leben, in dem es keinen Fernseher gibt und die nicht jeden zweiten Tag Fisch oder Fleisch essen können? Gibt es eine gesellschaftliche Verantwortung, dass alle Kinder diese Dinge haben?

STANDARD: Sie sehen diese Indikatoren als problematisch?

Schweiger: Sie ergeben sich daraus, was Menschen für wichtig erachten. Für die Begründung von Gerechtigkeit ist das aber zu wenig. Da benötigen wir einen Maßstab, der angibt, was wichtig ist, auch wenn viele Menschen vielleicht anderer Meinung sind. Auch ergibt sich im Globalen ein großes Problem, denn die Indikatoren in Europa sehen anders aus als in den USA oder in Bangladesch. Ein Kind ist in einem Kontext arm, im anderen nicht. Eigenschaften, für die das Kind nichts kann, rechtfertigen aber keine Unterschiede in der Verteilung von Gütern, die ihnen aus Gerechtigkeitsgründen zustehen. Ob ich alt oder jung bin, ein Mann oder eine Frau - all das darf in einer gerechten Gesellschaft keine Rolle spielen. Wenn ich es global ansehe, spielen zufällige Eigenschaften aber eine Rolle: Die zufälligste von allen, nämlich wo ich geboren bin, spielt die größte Rolle bei Armut. Das ist philosophisch und moralisch ein großes Problem.

STANDARD: Müsste der österreichische Staat Kindern in armen Ländern eher helfen als denen im eigenen Land?

Schweiger: Ich bin kein Vertreter davon, das gegeneinander auszuspielen. Da zitiere ich gerne Pierre Bourdieu, der gesagt hat, man darf das große Elend auf gar keinen Fall dazu benutzen, das kleine Elend herunterzumachen. Trotzdem haben wir Pflichten gegenüber Kindern in der sogenannten Dritten Welt, die dazu führen müssten, dass wir die Einrichtung dieser Welt radikal ändern oder überdenken sollten.

STANDARD: Wie lässt sich abwägen, wo Hilfe am meisten gebraucht wird?

Schweiger: Es ist ein wichtiges moralisches Prinzip, dass sich Hilfe daran bemisst, wie stark eine Person in Not ist. Es ist völlig klar, dass, wenn ich ein Kind sehe, das in einen See gefallen ist und ein anderes, das sich einen Schiefer eingezogen hat, es natürlich das moralisch Richtige ist, in den See zu springen. Auch wenn das Kind mit dem Schiefer das eigene und das Kind im See ein fremdes Kind ist. Oder wenn das Kind mit Schiefer ein österreichisches und das Kind im See ein Kind aus Bangladesch ist. Das Problem ist, dass wir bildlich gesprochen sehr viele ertrinkende Kinder auf dieser Welt haben, die sehr weit weg sind, und es deshalb nicht klar ist, was es bedeutet, in den See zu springen und diese Kinder zu retten. Jährlich sterben Millionen Kinder an Unterernährung und vermeidbaren Krankheiten, der Fokus liegt aber auf lokalen Problemen, die sichtbarer sind und leichter zu lösen. Verkompliziert wird die Sache dadurch, dass ein Staat wie Österreich das Problem der globalen Kinderarmut allein sicher nicht lösen kann. Um nochmal das Bild zu verwenden: Wir wissen nicht, welche der vielen ertrinkenden Kinder wir retten sollen.

STANDARD: Warum denken Sie, dass hier das globale Verantwortungsbewusstsein so wenig ausgeprägt ist?

Schweiger: Für eine gerechte Gesellschaft ist es notwendig, dass Menschen ein Empfinden der Solidarität füreinander haben. Die Erfahrung zeigt uns, dass das in einem geteilten Kulturkreis oder in einem Land leichter herzustellen ist. Doch auch, wenn wir uns nicht vorstellen können, was es heißt, in Armut aufzuwachsen, müssen wir entsprechend handeln - auch wenn es etwas Überwindung braucht. Wir kommen als Gesellschaft nicht darum herum zu sagen, dass wir die Pflicht haben, kein Kind in Armut aufwachsen zu lassen - in Österreich und auf der ganzen Welt. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 22.10.2014)