Irgendwie scheinen sie füreinander bestimmt: Graphic Novels und historische Themen. Mit Vorliebe buddeln Comic-Künstler tief in den Nischen der Vergangenheit, holen unbeachtet vor sich hinschlummernde Begebenheiten herauf in die Gegenwart, verfolgen mit akribischer Neugier kleinste Spuren von Episoden, die sich nicht ins kollektive Bewusstsein oder in die Geschichtsbücher eingeschrieben haben.

Dieser wissenschaftliche Drang, verstaubte Facetten der Geschichte unaufgeregt und auf unkonventionelle Weise offenzulegen und ihnen ein Eigenleben zurückzugeben - genau das ist es, was dem Comic-Blog Pictotop die richtige Würze gibt. Zumindest nach dem Geschmack der Verfasserin.

Aus Anlass des 25. Jubiläums des Mauerfalls widmet sich diese Folge "Lauter Leben" (Avant Verlag) und "Gleisdreieck. Berlin 1981" (Berlin Story Verlag), zwei Comic-Büchern, die mit ganz unterschiedlichen Mitteln ein emotional stark vermintes Gebiet aufarbeiten: Das der linken und linksradikalen Szene, des Häuserkampfs, des linken Extremismus und des Terrorismus in Berlin vor dem Mauerfall. Wohlgemerkt in Zeiten, in denen Hundertschaften von Polizisten nicht auf eine Handvoll Besetzer, sondern auf breite Demonstrationen angesetzt wurden.

Der belgische Autor Nicolas Wouters und der deutsche Illustrator Mikael Ross legen mit "Lauter Leben" ein sehr persönliches Stück vor, das es schafft, behutsam zu erzählen und zugleich ungestüm die Sau rauszulassen – eine Kunst für sich. Es ist zuerst einmal die Geschichte der Freundschaft zwischen Thomas und Martin, die in den 80er-Jahren in Belgien beginnt, als beide noch Kinder sind. Von Anfang an ist klar: Martin ist herausfordernd, impulsiv, aggressiv. Wohl auch, um der Aufmerksamkeit, die seinem behinderten Bruder zuteil wird, etwas entgegenzusetzen. Thomas, ruhig und zurückhaltend, lässt Martins Wutausbrüche über sich ergehen, bewundert ihn, eifert ihm nach, nimmt jede Herausforderung hungrig an.

Avant-Verlag/Wouters, Ross

Szenenwechsel in die Jetztzeit: Thomas ist erwachsen, führt ein gediegenes Leben als unauffälliger Normalo. Doch es steht eine Zäsur an: Seine Frau ist dabei, ihn mit der gemeinsamen Tochter zu verlassen. Eine alte Notiz aus Jugendtagen, die er am Dachboden findet – "Pack Deine Stiefel, wir hauen ab" –, die darauf folgende Entscheidung, einfach auszubrechen aus den Zwängen des Alltags und dann auch noch die zufällige Begegnung mit Martin am Bahnhof bringen ein Flashback ins Rollen, dessen Druckwellen bis weit hinein in die Gegenwart zu spüren sind.

In einem raffinierten Lauf wechselt die Erzählung zwischen Rückblenden und dem Heute, und führt ausgehend von einer Punk-Jugend in den 80er- und 90er-Jahren durch besetzte Häuser von Brüssel nach Berlin, durch versiffte Konzertkeller, dumpfe Schlägereien und harte Proben für die einst symbiotische Freundschaft. Macht deutlich, wie politisch das Private ist - eh klar. Und was die Zukunft für die Generation "No Future" bereitgehalten hat.

Avant-Verlag/Wouters, Ross

In fleckig-verwaschenen Wasserfarben koloriert Ross die packende Geschichte – von sonnenuntergangsrosa bis feuerrot, von babyblau zu drachengrün und pechschwarz. Zusammen mit wechselnden Größenverhältnissen der Figuren und der Panels, Verzerrungen und extremen Perspektiven wird der Leser direkt ins Herz der Figuren gebeamt, spürt förmlich den Schmerz, der entsteht, wenn Träume an den äußeren und inneren Um- und Widerständen zu zerbrechen drohen.

Ein Punk-Konzert wird zu Teufels Küche, die Kraft der Musik fließt direkt aus den groben Bildern. Die Zeichnungen sprechen die nicht formalisierbare Sprache von blinder Wut, überbordendem Größenwahn und der Sensibilität des Renitenten. Von der Grenzerfahrung zwischen Kindheit und jugendlichem Exzess, die schließlich in der Entscheidung zwischen einer bürgerlichen Existenz und Absprung in eine vermeintliche Freiheit kulminiert.

Avant-Verlag/Wouters, Ross

"Deine Freiheit, die würdest du doch keine drei Tage aushalten", sagt Martin an einer Stelle, als die beiden erwachsenen Männer ans Eingemachte gehen – ihre Lebensentwürfe. Während Thomas sein teils missglücktes Spießerdasein hinterfragt, das "System" kritisiert und ihm doch nicht entkommt, hat Martin einen kompromisslosen Weg als Abtrünniger der Gesellschaft eingeschlagen. Dass das wenig Heldenhaftes an sich hat, enthüllt letztlich das armselige Penner-Dasein, das er führt, wegen seiner Ausfälle selbst von den anderen Obdachlosen verachtet.

Avant-Verlag/Wouters, Ross

Einen ganz anderen, stärker dem Dokumentarischen verpflichteten Ansatz wählen Jörg Ulbert (Text) und Jörg Mailliet (Illustrationen) in "Gleisdreieck. Berlin 1981". Doch auch hier sind die Protagonisten ein absolut ungleiches Paar, die zwei Seiten einer Medaille, zwei Menschen, die zufällig von den Umständen der Zeit aneinander gekettet werden. Und noch eine Parallele gibt es: Beide Bücher geben der Punk-Musik eine wichtige Rolle und integrieren sie gekonnt in das stumme Comic-Medium.

Wir sehen Otto, einen gedrungenen jungen Mann, wie er in Berlin ankommt, sich eine Wohnung mietet, Politologie und Anthropologie inskribiert – "wie er". Auf der Suche nach Lokalen, "die ihm gefallen könnten", klappert er Westberlin ab, "Arbeiterkneipen", "Popperläden für Schickeria-Muttersöhnchen", "Skinheadschuppen", "Klitschen der Rock-a-Billys", "Sceneläden für linke Möchtegernkünstler oder für Anarchopunks".

Bevor wir noch wissen, auf wessen Spuren sich Otto heftet, ist sein Ziel klar: Anschluss zu finden an die Hausbesetzerszene, die sich mit allen Mitteln gegen die Abrisspläne der Berliner Stadtregierung stellt.

Berlin Story Verlag/Ulbert, Mailliet

Dann lernen wir Martin kennen, offenbar ein gesuchter Terrorist, abgebrüht und undurchschaubar, der sich mit ein paar Tricks nach Westberlin schmuggelt und in einer WG von alten Freunden unterkommt. Bald ist klar: Otto ist ein V-Mann, der Martin verfolgen soll. Und Martin ist dabei, eine Entführung zu planen. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Demonstranten, Anarchos und Polizei, ein Feilschen zwischen friedlichen Hausbesetzern und radikaleren Strömungen um Straßenkampf und Weltrevolution. Dazwischen tauchen sowohl Otto als auch Martin ein in die "Szene", in die Clubs und Kneipen - darunter das legendäre SO 36 - , endlose Diskussionen, einschlägige Konzerte, Schlägereien.

Berlin Story Verlag/Ulbert, Mailliet

Erst relativ spät gibt "Gleisdreieck" Hinweise auf den politischen Hintergrund, nämlich auf die Bewegung 2. Juni, die Martin mit seiner Gang wiederbeleben will. Die linksextreme Organisation war in den 1970er-Jahren in Berlin aktiv und erinnerte mit ihrem Namen an den Todestag von Benno Ohnesorg, der 1967 bei einer Demo erschossen worden war. 1980 erklärte ein Teil der Vereinigung die Selbstauflösung und schloss sich der RAF an. Andere Mitglieder dementierten die Auflösung und bekundeten, in kleineren Zellen weiterzuarbeiten. So wie Martin, dem jedes noch so brutale Mittel recht ist. Dem steht die Polizeigewalt gegenüber, die den Tode des jungen Hausbesetzers Klaus-Jürgen Rattay zur Folge hat. Otto wiederum soll als Agent Provocateur in einer Gruppe, die auf gewaltfreiem Protest setzt, die Fahndung nach Martin erleichtern. Was klarerweise nicht ohne Gewissenskonflikte machbar ist.

Berlin Story Verlag/Ulbert, Mailliet

Das Buch, in klassischem Comicstil gezeichnet, kommt formal etwas brav herüber, zeichnet aber in erdig satten Farben gehalten ein recht authentisches Stadtbild von Berlin, mitsamt trister Plattenbauten, verfallener Spekulationsobjekte und abgewrackter Industrieruinen. Ein Playliste im Umschlag, die auch im Buch immer wieder aufgegriffen wird, schlägt den passenden Nostalgie-Soundtrack vor (Slime, Fehlfarben, Dead Kennedys, Joy Division...). Wohl unvermeidlich sind die Anklänge an eine etwas aufgesetzte Revolutionsromantik. In den Phasen, in denen die Geschichte sich einem Agententhriller annähert, wird es durchaus spannend, angenehm durchwachsen mit skurrilen Momenten. Doch die Charaktere bleiben seltsam blass.

Auch wenn heute städtische Freiräume so gut wie gar nicht mehr vorhanden sind, die Problematik verkommender Immobilien ist nach wie vor relevant. Und auch wenn der linke Widerstand völlig andere Formen angenommen hat - die beiden Bücher machen jedenfalls Gusto auf den staubigen Geschmack der Straße.

Berlin Story Verlag/Ulbert, Mailliet

Nicolas Wouters, Mikael Ross
Lauter Leben

Avant Verlag 2014
104 Seiten, 19,95 Euro

Avant-Verlag/Wouters, Ross

Jörg Ulbert, Jörg Mailliet
Gleisdreieck. Berlin 1981

Berlin Story Verlag 2014
128 Seiten, 19,95 Euro

Berlin Story Verlag/Ulbert, Mailliet