Edward Snowden traf die Regisseurin Laura Poitras erstmals im Frühjahr 2013. Ihr Film "Citizenfour" kehrt an die "Urszenen" des Enthüllungscoups zurück.

Foto: Praxis Films

Berlin - Am 9. Juni 2013 veröffentlichte der englische Guardian auf seiner Webseite ein zwölf Minuten langes Video. Wer es anklickte, sah als Erstes ein pittoreskes Hongkonger Hafenpanorama. Gemächlicher Tagesbeginn, friedlich gurgelnde Wassergeräusche. Bevor man sich länger über diese erste dezidiert filmische Eröffnungseinstellung wundern konnte, war das Video schon mit einem harten Schnitt zur zweiten Einstellung, zum annoncierten Enthüllungsakt gewechselt. Ein aufgeräumt wirkender junger Amerikaner stellte sich darin der Weltöffentlichkeit vor: "My name is Ed Snowden."

Das Webvideo war in gewisser Weise schon im Moment seiner Veröffentlichung "historisch": Jeder, der es sah, wusste, hier wird mindestens Mediengeschichte geschrieben. Als kühle Inszenierung einer selbstbewusst gewählten Enttarnung ist es ohne Vergleich. Das darin enthaltene mediale Kalkül dürfte Adressaten in der US-amerikanischen Geheimdienstwelt zunächst nachhaltig beeindruckt haben. Ein Whistleblower, der sich nicht versteckt, sondern öffentlich argumentiert. Kein verrückter Verräter, sondern ein kluger Kopf. Zudem umgeben von Leuten, die offenkundig wissen, wie die digital vernetzte Mediensphäre tickt. Team Snowden hatte sich konstituiert und würde sich nicht ohne weiteres von der Bildfläche schieben lassen. Mehr noch: Sie hatten eine Strategie, wie man diese effektiv bespielt.

Mehr als ein Jahr später kommt die Autorin des Webvideos, die Dokumentarregisseurin Laura Poitras (My Country, My Country; The Oath), auf die Umstände dieses medialen Geburtsmoments zurück. Herzstück ihres Films Citizenfour sind Szenen der acht Junitage 2013 in Snowdens Hotelzimmer. Dort befand sich Poitras, weil sie Anfang des Jahres von Snowden kontaktiert, ins Vertrauen gezogen und auf die geplanten Leaks vorbereitet worden war.

Gemeinsam mit dem Journalisten Glenn Greenwald und dem Guardian -Mitarbeiter Ewen Mac-Askill stand sie kurze Zeit später einem jungen Mann gegenüber, der materialreich belegen konnte, wie profund US-amerikanische und britische Geheimdienstinstitutionen routinemäßig in die Privatsphäre unbescholtener Bürger eindringen.

Mehr als Making-of

Laura Poitras beschränkt sich in Citizenfour zwar nicht auf ein Making-of von Snowdens "Coming out", hat aber auf dieser Ebene doch den unmittelbarsten Attraktionswert. Aktivisten wie Julian Assange und Jacob Appelbaum erscheinen in wenigen Auftritten als Nebenfiguren; auch der NSA-Whistleblower William Binney, mit dem Poitras bereits 2012 den kurzen Film The Program gedreht hatte, taucht in einigen Szenen auf, die den Kontext erweitern und politische Reaktionsmuster andeuten sollen.

Während in diesen Passagen im Wesentlichen bereits veröffentlichtes Nachrichtenmaterial als Found Footage zitiert wird, hat Poitras das Kammerspiel im Hongkonger Hotelzimmer exklusiv. Dass ihre Kamera von Anfang an konsequent mitlief, scheint Snowden kaum irritiert zu haben. So sehen wir ihn auch auf Nebenkriegsschauplätzen, etwa im Kampf mit widrig abstehenden Haarwirbeln.

Diskrete Unsichtbarkeit scheint ihm nur bei Passworteingaben von Belang. Er zieht sich dann eine Decke über ("my magic mantle of power"). Niemand soll an seinen abgefilmten Handbewegungen Tastaturfolgen ablesen können. Echte Nervosität kommt aber nur einmal auf, als ein Feueralarm kurz verdächtigt wird, Teil eines ausgeklügelten Hotelzimmerstürmungsplans zu sein.

Politisch unabgeschlossen

Citizenfour deutet am Ende, bei einer Wiedervereinigung des Hongkong-Teams in Moskau, zwar an, dass es einen neuen Whistleblower, einen Snowden-Nachfolger mit aktuellem Zugang zu weiteren Geheimdokumenten gibt. Wichtig ist dies aber in erster Linie als Hinweis auf die politische Unabgeschlossenheit der ganzen Affäre. Poitras blickt auf den ursprünglichen Enthüllungsmoment zurück, will aber keiner falschen Konsolidierung zuarbeiten.

Der Fall Snowden soll gerade nicht "historisch", sondern weiterhin Quelle überwachungskritischer Dynamik sein. Die filmische Befragung der Hongkonger "Urszene", das darin erzählte Porträt Snowdens, konfrontiert Poitras deshalb mit dem Umstand, dass die durch die Enthüllungen freigelegte Erosion demokratischer Grundwerte zwar nun in groben Konturen öffentliches Wissen ist, aber kaum nennenswerte institutionelle oder gesetzgeberische Folgen gezeitigt hat.

Citizenfour geht an den Ausgangspunkt zurück, um daran zu erinnern, dass die Dimension des Skandals in auffallendem Missverhältnis zu seinen unmittelbaren politischen Konsequenzen steht. Die Hotelzimmergeschichte ist nun aus der Binnenperspektive filmisch aufgeschrieben, enthält aber nicht zuletzt eine kritische Rückfrage an eine Öffentlichkeit, die bis heute nicht wirksam protestiert hat. (Simon Rothöhler, DER STANDARD, 21.10.2014)