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Foto: epa/Niedringhaus

Auszug Teil I: Abschied von der guten alten Neutralität

Juni 1989. In den letzten zwei Wochen vor der politischen Sommerpause kommt Alois Mock kaum ins Bett. Der Außenminister will den offiziellen Antrag Österreichs auf den EG-Beitritt unbedingt noch bis Mitte Juli in Brüssel übergeben. Aber es gibt Schwierigkeiten. Die SPÖ hat Bedenken wegen der Neutralität. Sie befürchtet, ein EG-Beitritt könnte die bewährte Neutralitätspolitik in Zweifel ziehen, wie sie unter ihrem langjährigen Kanzler Bruno Kreisky ganz besonders gepflegt wurde. Dazu sollte es eine Klärung geben.

Die Regierung hatte sich bereits am 17. April dafür entschieden, die "Beitrittsoption zu ziehen" - Präsidium und Vorstand der SPÖ hatten davor Parteichef und Bundeskanzler Franz Vranitzky mit nur vier Gegenstimmen die Zustimmung zu diesem Schritt gegeben -, diese wurde jedoch mit der Bedingung versehen, dass die Neutralität ein "unverzichtbares Gut" und "nicht verhandelbar" sei. Besonders Nationalratspräsident Heinz Fischer nahm bis zuletzt eine kompromisslose Haltung ein.

Blick nach Westen

Der Erhalt der Neutralität sei notfalls wichtiger als ein EG-Beitritt, war seine Linie. Mock und seine Beamten befürchteten, dass allzu deutlich formulierte sicherheitspolitische Bedingungen die EG-Staaten abschrecken könnten, Österreich zu Verhandlungen einzuladen. Er war keineswegs für die Abschaffung der Neutralität. Auch in der ÖVP hielten alle Verantwortlichen die Erwähnung der Neutralität für nötig. Die gute Frage war aber, wie man es formuliert. Daher gab es in der großen Koalition "erhöhten Abstimmungsbedarf", wie die Umschreibung für heftigen Streit hieß. Zumindest aus Osteuropa erhielt Mock in diesen Tagen erfreuliche Nachrichten. In Polen hatte die Bürgerbewegung Solidarnosc bei den ersten, teils freien Parlamentswahlen am 4. und 18. Juni gewonnen, alle 161 freien Mandate von insgesamt 460 im Sejm.

In Ungarn kündigte die kommunistische Regierung umfassende Reformen an. Düstere Meldungen kamen aus Peking. Das Regime hatte nach Studentenprotesten auf dem Tiananmen brutal zugeschlagen. Es gab laut Rotem Kreuz mehr als zweitausend Tote. Aber nicht Osteuropa, nicht China galt das Hauptaugenmerk des österreichischen Außenministers. Ihn interessierte vor allem, was in den kommenden Tagen im Westen - in der Europäischen Gemeinschaft - geschehen werde. Die EG war in diesen Wochen mit völlig anderen Zielsetzungen beschäftigt als mit Neutralitätsdebatten in Österreich. Die zwölf Staats- und Regierungschefs waren am 26./27. Juni zum regulären Gipfel in Madrid verabredet. Es gab zwei Schwerpunkte: Zum einen sollte die Umsetzung des Binnenmarktes beschleunigt werden. Das erforderte Einschränkungen der nationalen Kompetenzen. Nationalstaaten sollten ihre Veto- und Blockademöglichkeiten verlieren.

Auf der Agenda der Regierungschefs stand aber noch ein zweites großes Vorhaben, der Delors-Plan, benannt nach dem Präsidenten der EG-Kommission. Der Franzose schlug einen Dreistufenplan zur Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion vor. Innerhalb von zehn Jahren wären die nationalen Währungen abgelöst. Die Ereignisse in Osteuropa gingen bei den Beratungen in Madrid unter. Dem Thema wurden in der Schlusserklärung magere zehn Zeilen gewidmet. Das klang nicht danach, als erwarte man in Osteuropa eine Revolution.

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Auszug Teil II: Jörg Haiders Schwenk zum Nein zur EU

Im Finale der Verhandlungen mit Brüssel und der öffentlichen Debatte darüber vor der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 ging es vor allem um wirtschaftliche Themen, die Transitproblematik, die Neutralität, um eine schematische Gegenüberstellung von Vorteilen und Nachteilen des Beitritts für den Einzelnen und ganze Berufsgruppen, letztlich ums Geld. Und die Auseinandersetzung darüber führten Regierung und Opposition äußerst emotional.

Eine Grundlage dafür bildete die Abwahl Jörg Haiders als Landeshauptmann in Kärnten. Sein Lob für die Beschäftigungspolitik des Dritten Reichs drei Jahre davor bedeutete nicht sein Ende als Spitzenpolitiker, ganz im Gegenteil. Der FPÖ-Chef kehrte nach Wien in den Nationalrat zurück, wo er ein Mandat hatte, übernahm im Frühjahr 1992 den Posten des
Fraktionschefs und verschärfte den Oppositionskurs seiner Partei "gegen die Politik von Rot-Schwarz". Der Tonfall der politischen Auseinandersetzung auf Bundesebene wurde
rauer, besonders in der Europapolitik.

Den Anlass für diese Rochade bot ihm ein Aufsatz seines "Grundsatzreferenten" Andreas Mölzer, des späteren Herausgebers der nationalen Zeitschrift "Zur Zeit". Dieser
sollte mehr als zehn Jahre später EU-Abgeordneter werden, fast zwanzig Jahre später – im Winter 2014 – eine Wahlplattform extrem rechter Parteien für die Europawahlen initiieren, mit einer FPÖ unter ihrem neuen Parteichef Heinz-Christian Strache und der Chefin des französischen Front National, Marine Le Pen, an führender Stelle. In einem Artikel hatte Mölzer die Ausländerpolitik der Regierung kritisiert und vor einer "Umvolkung" Österreichs gewarnt. Den Begriff hatten die Nationalsozialisten geprägt, wenngleich sie damit die Germanisierung Osteuropas durch Deutsche gemeint hatten. Die ausländerfeindlichen
Ausführungen des Haider-Vertrauten führten innerhalb der FPÖ zu Kritik und Debatten. Funktionäre wie Norbert Gugerbauer oder die als Bundespräsidentschaftskandidatin
für die Wahl im Mai bereits nominierte Dritte Nationalratspräsidentin Heide Schmidt sprachen sich gegen Mölzer aus.

Haider rief alle Führungsgremien der Partei in Neuhofen in Oberösterreich zusammen. Die Kritiker Mölzers wurden scharf abgemahnt, Schmidt musste sich unterwerfen. Gugerbauer verließ den Tagungsort, ein Gasthaus, fluchtartig durch die Hintertür und legte alle politischen Funktionen in der Partei zurück. Der FPÖ-Chef ließ sich, von seinen Generalsekretären und Bundesgeschäftsführer Gernot Rumpold im Hintergrund gut inszeniert, zum Klubobmann designieren.

Insbesondere der Bruch Haiders mit Gugerbauer war bemerkenswert. Dieser hat sich bis heute nicht ausführlich dazu geäußert. Der Rechtsanwalt, Spezialist für Kartellfragen und überzeugte Pro-Europäer stammte – wie Haider – aus dem nationalen Lager der Freiheitlichen in Oberösterreich. Er war einer der Drahtzieher beim Innsbrucker Parteitag 1986, bei dem Norbert Steger von Haider gestürzt worden war. Aber Gugerbauer pflegte einen moderaten Politikstil. Und er führte im Hintergrund sogar Gespräche mit der ÖVP über eine mögliche Koalition mit ihm als Vizekanzler – an Jörg Haider vorbei.

Das war dem FPÖ-Chef in Kärnten nicht verborgen geblieben. Da SPÖ und ÖVP "ohne Wenn und Aber" für die EG-Integration eintraten, sah Haider ab Frühjahr seine
Chance, die Partei wieder ganz an sich zu binden. Er schwenkte auf einen Kurs gegen den EG-Beitritt um und verknüpfte dies mit dem "Ausländerproblem", gerade als der Flüchtlingszustrom aus Bosnien-Herzegowina sprunghaft zunahm. Haider wollte neue Wählerschichten vor allem unter jenen ansprechen, die "zu kurz gekommen waren", die durch mehr Europäisierung Nachteile zu erwarten hatten. Ein willkommener Anlass dafür bot sich ihm unmittelbar.

Ende Juni 1991, kurz vor Ausbruch des Krieges in Slowenien, waren zwischen der EG und den EFTA-Staaten die Verhandlungen über die Teilnahme am Binnenmarkt im Rahmen des neu geschaffenen Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) abgeschlossen worden. Der EWR sollte im Mai 1992 starten, parallel zum entstehenden EU-Vertrag von Maastricht, und die Partnerländer Österreichs in der EFTA, Schweden, Finnland und die Schweiz, wollten auch dabei sein.

So wie Österreich schloss die Regierung in Bern daneben auch ein Transitabkommen mit der EG ab, das den Schwerverkehr über die Alpen regelte beziehungsweise die Zahl der Lkw-Fahrten und den Schadstoffausstoß einschränkte. Wie die Dänen im ersten Anlauf den Maastricht-Vertrag, lehnten die Schweizer die Teilnahme ihres Landes am EWR ab.
An die Abstimmung geknüpft war die Absicht der Regierung, später in Beitrittsverhandlungen mit der Gemeinschaft einzutreten, die damit ebenso zurückgewiesen wurde.

Bern schlug deshalb fast zehn Jahre später den Weg der EU-Annäherung über bilaterale Verträge ein. Gegen die Annäherung an die EG hatte sich vor allem die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) von Christoph Blocher ausgesprochen, der sich – wie die FPÖ in Österreich – unter anderem mit Anti-Ausländer-Parolen profilierte.

Anders als die Grünen in Österreich, die den EG-Beitritt wie auch die Teilnahme Österreichs am Binnenmarkt via EWR von Anfang an prinzipiell abgelehnt hatten, baute Haider seine Linie etwas komplexer auf, nämlich als eine Art Doppelmühle für die Regierung, um sie am Ende als Verräter heimischer Interessen in Brüssel anzuprangern. Im Somme 1992 begründete er zunächst das Nein zum EWR-Beitritt damit, dass dieser dem Land nur Pflichten, aber keine Mitspracherechte in der Gemeinschaft bringe. Die FPÖ wollte durchaus "bei Europa mittun", aber nur, wenn Österreich seine "Identität einbringt", ergänzte der FPÖ-Chef nach einem Parteivorstand Ende August 1992 im Mittagsjournal des ORF, nachdem die modifizierte EG-Linie beschlossen worden war.

Der Regierung warf er vor, die Hausaufgaben für eine EG-Mitgliedschaft nicht zu machen. Gleichzeitig sprach er sich für einen NATO-Beitritt aus. Dies wäre "vernünftiger, um in einem funktionierenden Sicherheitssystem drin zu sein". Als Beweis dafür führte er die Türkei (!) an. Gleichzeitig warnte der FPÖ-Chef davor, dass die Öffnung zum Binnenmarkt einen starken Zustrom an ausländischen Arbeitnehmern und große Nachteile für die Bauern bringen werde. "Ja zu einem Europa als Friedensordnung, aber Nein zum gegenwärtigen Zentralismus und zum gewaltigen Demokratiedefizit in der EG", fasste er seine Linie zusammen.

Daran sollte sich in den Jahren darauf nichts mehr ändern, was immer die Regierung in Brüssel auch verhandelte. Mit Haiders Schwenk war die Große Koalition noch fester zusammengebunden. ÖVP-Chef Busek und Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel, der für die EWR-Integration verantwortlich war, kritisierten Haider scharf. Die Entscheidung der FPÖ sei "eine Katastrophe", so Schüssel. Busek erklärte, dass "die Linienänderungen Haiders nicht ernst zu nehmen sind", weil die sich "immer wieder ändern".

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Auszug Teil III: Schüssels Frühstücksaffäre von Amsterdam

Beim EU-Gipfel von Amsterdam ging es um europapolitisch bedeutende Vorhaben. Aber bald nach der Rückkehr der Regierungsspitzen nach Wien gab es kein anderes Thema als die "Frühstücksaffäre von Amsterdam". Am zweiten Gipfeltag hatte sich Außenminister Wolfgang Schüssel im Frühstücksraum des Hilton-Hotels an einen großen Tisch mit Journalisten dazugesetzt. Es begann ein Gespräch über die Verhandlungen im Rat. Die Rede kam auch auf eine Kontroverse zwischen dem deutschen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer und Finanzminister Theo Waigel.

Schüssels Eklat

Der Außenminister kritisierte Tietmeyer, nannte ihn "eine richtige Sau". Als das knapp zwei Wochen später öffentlich wurde, bestritt er es, stellte es als Erfindung der Journalisten dar. Seine Ausdrucksweise war nach seinem Abgang vom Frühstückstisch Gesprächsthema unter den Berichterstattern, später am Tag auch im Pressezentrum des Gipfels. Dutzende Journalisten, auch deutsche und französische, sogar Diplomaten wussten Bescheid. Schüssel schätzte einfach sein Auftreten auf der europäischen Ebene falsch ein. "Das ist einer von denen, die vor nichts zurückschrecken, wenn es um ihre Interessen geht", erinnert sich Hartwig Nathe, "das sind Typen von Politikern, die glauben, sie können sich alles erlauben." Der Hamburger war 1997 Europakorrespondent des deutschen Magazins Focus in Brüssel. Auch er hatte nach dem EU-Gipfel begonnen, den Entgleisungen Schüssels nachzurecherchieren. Nathes Artikel zu Schüssel vom 30. Juni brachte die Sache schließlich ins Rollen: "Unkontrollierte Wutausbrüche" machten den Außenminister "zum Risikofaktor für die Wiener Regierung".

Die Frühstücksepisode wuchs sich zu einem veritablen politischen Eklat aus. Möglich war das nur in einem sehr österreichischen Zusammenspiel von Politikern und Medien. Verdrehungen und Vernebelungen auf der einen Seite standen gegen Aufklärung und Fakten auf der anderen Seite.

"Menschenjagd"

Die ÖVP versuchte, aus einer Politaffäre einen Medienskandal zu zimmern. ÖVP-Klubchef Andreas Khol sprach von Verrat und einer "widerlichen Kopf- und Menschenjagd". Der Parteichef und Vizekanzler lieferte im Mittagsjournal des ORF die Zutaten: "Es wird geschrieben, ich hätte bei einem Pressegespräch, einem Pressefrühstück in Amsterdam so etwas gesagt. Wahr ist, und das kann jeder bestätigen, der dort teilgenommen hat, ich habe an überhaupt keinem Pressefrühstück teilgenommen oder eines selbst veranstaltet."

Die Interviewerin setzt nach: Es gebe aber "eine Reihe von österreichischen Journalisten, die durchaus bestätigen können, dass solche Äußerungen Ihrerseits sehr wohl gefallen sind". Schüssel entgegnete: Das Ganze sei "eine absolute Erfindung", ein "Amalgam von wirklich bösartigen Unterstellungen. Daran ist kein Wort wahr, und damit ist die Sache für mich erledigt. Sind S' mir net bös." Die ORF-Redakteurin probierte noch einmal, den Sachverhalt anzusprechen, aber Schüssel unterbrach sie: "Frau Redakteurin, darf ich Ihnen ganz offen sagen, meine Erklärung haben Sie gehabt, und damit ist es für mich erledigt ..."

Einen weiteren Zwischenruf konnte sie nicht mehr anbringen, ihr Halbsatz wurde von einem langen "tüt tüt tüt tüt" des Telefons abgeschnitten. Nach einer kurzen Pause meldete sich der Moderator: "Das sagte der Außenminister im Gespräch mit Bettina Roither und legte auf, und somit konnten wir Wolfgang Schüssel nicht mehr auf die Tatsache ansprechen, dass auch zwei ORF-Journalisten die von ihm bestrittenen Äußerungen in Amsterdam gehört haben."

Keine Nachfragen

Das Interview spaltete die Nation. Die Szene, als Schüssel auflegte, grub sich ins kollektive Gedächtnis. Im Bundeskanzleramt zeigte sich Viktor Klima beunruhigt. Er diskutierte mit seinem Kabinett, wie man reagieren solle. Der Kanzler gab eine klare Anweisung: "Schüssel darf auf keinen Fall fallengelassen werden." Kanzlersprecher Josef Kalina wurde zur Schadensbegrenzung ausgeschickt. Eine denkwürdige Szene spielte sich nach dem Ministerrat tags darauf ab: Armin Wolf, ZiB 2 -Redakteur, meldete sich zu Wort.

Er verstehe nicht, wie Schüssel behaupten könne, nie solche Kraftausdrücke verwendet zu haben, wie geschrieben wurde. Er selbst sei bei einer VP-Klubklausur in Telfs dabei gewesen, wo Schüssel in einer Runde einen afrikanischen Minister einen "Bloßfüßigen" genannt habe. Einige Kollegen, die dabei gewesen seien, seien sogar im Raum. Der Außenminister stutzte kurz, unter den rund drei bis vier Dutzend anwesenden Journalisten wurde es mucksmäuschenstill. Schüssel antwortete, der "Herr Redakteur" solle aufpassen, was er da sage. Er habe diesen Ausdruck nie verwendet. Niemand fragt nach. (DER STANDARD, 18.10.2014)