"Philosophieren stärkt das Selbstwertgefühl. Kritisches Denken heißt nicht, dass man überall dagegen ist, sondern nicht alles unhinterfragt hinnimmt", sagt Daniela G. Camhy.

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derStandard.at: Wie reagieren Menschen darauf, wenn Sie ihnen sagen, was Sie beruflich machen?

Camhy: Die erste Reaktion ist oft: Was ist Philosophieren überhaupt? Und warum mit Kindern? Ich sage dann, es geht um die Förderung der Denk- und Persönlichkeitsentwicklung, darum, zu eigenständigen Denkern zu werden.

derStandard.at: Ist eigenständiges Denken von Kindern und Jugendlichen überhaupt sehr beliebt bei Erwachsenen?

Camhy: Es ist nicht sehr beliebt, denn Kinder stellen dann auch mehr Fragen. Das sagen wir auch den Eltern, dass sie sich dann mehr Zeit nehmen müssen für ihre Kinder. Aber viele sind dann auch ganz begeistert und überrascht von der Genialität der Kinderfragen. Und bei den Lehrern fällt mir auf, dass sie die Kinder dann mehr als eigene Persönlichkeit wahrnehmen, unabhängig von Leistungen in einzelnen Schulfächern. Die Wertschätzung, die jedes Kind bekommt, steigt. Denn tatsächlich hat jedes Kind eigenständige Fähigkeiten, doch viele denken von sich selbst, sie könnten gar nichts. Philosophieren stärkt das Selbstwertgefühl. Kritisches Denken heißt nicht, dass man überall dagegen ist, sondern nicht alles unhinterfragt hinnimmt.

derStandard.at: Wenn Kinder denken, sie könnten gar nichts, dann suggeriert ihnen das doch zuerst wahrscheinlich ihre Umwelt. Werden Kinder allgemein zu oft unterschätzt?

Camhy: Kinder werden immer total unterschätzt. Es steckt so viel Potenzial in ihnen. Es ist ja von Anfang an nicht so, dass Kinder nicht lernen wollen, sie sind neugierig, sie wollen staunen.

derStandard.at: Die Neugierde wird ihnen aber oft ausgetrieben – im schlechtesten Fall von Eltern und Schule. Wo ist denn Ihrer Erfahrung nach dieser Punkt, wo die "Genialität" von Kindern, von der Karl Jaspers schrieb, sie gehe im Erwachsenenalter verloren, verschwindet?

Camhy: Das kann schon sehr früh sein, aber das hängt von so vielen Faktoren in einer Biografie ab, dass man das so nicht beantworten kann. Aber auch Adorno sagte, den Kindern werde das in der Schule quasi herausgeprügelt.

derStandard.at: Welche Stunden müssen Sie sich ausborgen, wenn Sie an Schulen gehen? Für die Jüngsten gibt es ja keinen Philosophieunterricht im Lehrplan.

Camhy: Zum Beispiel Deutsch. Denn es geht auch immer um Sprachphilosophie, um differenziertes Anwenden der Sprache in Zeiten, wo Kinder fast nur mehr in verkürzten SMS kommunizieren. Es geht auch um Begriffsklärungen.

derStandard.at: Wie oft findet der Unterricht statt?

Camhy: Einmal in der Woche. Es muss auch eine Atmosphäre des Vertrauens geschaffen werden. Ich muss sagen, am Ende reden bei uns 98 Prozent der Kinder. Manchmal sitzt jemand still in einer Ecke, weil das Selbstvertrauen ganz klein ist. Dann sagen wir diesem Kind, es ist schade, wenn du nichts sagst, weil dann dein einzigartiger Gedanke nicht einfließt. Es sind sokratische Gespräche, das heißt, der Lehrer ist ein Fragensteller von offenen Fragen.

derStandard.at: Die Kinder sind es gewohnt, dass Antworten richtig oder falsch sind. Gibt es beim Philosophieren keine falschen Antworten?

Camhy: Das würde ich so nicht sagen. Ich könnte ja die Frage nicht verstanden haben – womit wir wieder bei der nötigen Begriffsklärung sind. Oder ich könnte von einem Dogma ausgehen, da kann man nicht philosophieren. Man muss begründen können, warum man anderer Meinung ist als andere Kinder. Da gehört auch Argumentation dazu.

derStandard.at: Aber nicht im Sinne der Eristik, also nicht: Ich lerne argumentieren, damit ich gewinne.

Camhy: Genau. Es geht nicht darum, dass am Ende einer recht hat, sondern dass man in der Gruppe gemeinsam einen Erkenntnisgewinn hat. Es ist immer sehr schön zu sehen, wie die Kinder einander dann auch helfen, einen Begriff zu finden. Zum Beispiel auch jenen, die eine andere Muttersprache haben, das ist auch ein Gewinn. Ein Ziel für uns ist es auch, dass sie weltoffenere Menschen werden, offen gegenüber anderen und ihren Kulturen, aber trotzdem alles hinterfragend. Letzten Endes geht es später auch um die Partizipation junger Menschen, die dann einmal wählen sollen, es geht um Demokratie. Dafür muss eine Gesellschaft kritisch analysieren können. Wir halten es mit Martha Nussbaum und Hannah Arendt, für die das kritische Denken auch etwas ganz Grundsätzliches für jede Demokratie war.

derStandard.at: Zynisch gesagt: Wenn sie mit dem kritischen Analysieren erst einmal anfangen, könnten sie bald auf Demos gehen. Da sind viele Eltern vielleicht gar nicht froh darüber.

Camhy: Wie gesagt, man muss sich Zeit nehmen für Diskussionen.

derStandard.at: Sind Sie dafür, dass praktisches Philosophieren einen fixen Platz im Lehrplan bekommt, wie Religion oder ein oft diskutierter Ethikunterricht?

Camhy: Es geht ja nicht um Konkurrenz zu anderen Fächern. Wir brauchen nicht noch mehr Fächer. Es gibt jetzt auch an manchen Schulen das Glücksfach. Ich bin da skeptisch. Erstens muss man die Begriffe klären. Es ist nämlich nicht jeder allein für sein Glück verantwortlich, das ist auch institutionalisiert. Die Kinder müssen da ein Glückstagebuch führen …

derStandard.at: Klingt fast nach Stress …

Camhy: Na ja, wenn dagegen Lehrer und Lehrerinnen alle Philosophie in der Ausbildung hätten, das würde in jedem Unterricht viel verändern. Da käme mehr Begeisterung auf. Zum Beispiel in der Mathematik: Denken Sie an Professor Rudolf Taschner, der kann das. Das ist ein Mathematiker, und Erwachsene und Kinder hängen an seinen Lippen. Etwa eine Frage wie "Was ist eigentlich eine Zahl?" weckt die Wissbegierde. Aber wäre das in der Ausbildung, bestünde trotzdem die Gefahr, dass es dann am Ende nirgends stattfindet. Kompetenzen werden oft nur trainiert. Aber das geht beim Philosophieren nicht. Hier geht es auch um Empathiefähigkeit. Eben darum, Menschen zum Staunen zu bringen. Dabei ist nicht jeder Sesselkreis ein philosophisches Gespräch. Da braucht es eine fundierte Ausbildung.

derStandard.at: Die Sie ja für Lehrer an der Uni anbieten. Was unterscheidet Kinderphilosophie von jener der Erwachsenen?

Camhy: Philosophen suchen immer nach Beispielen, Kinder bringen Beispiele.

derStandard.at: Welche Fragen von Kindern haben Sie in den letzten 30 Jahren besonders beeindruckt?

Camhy: Ein zehnjähriges Kind hat mich gefragt, was eigentlich eine ethnische Säuberung sei. Das hat ein längeres Gespräch mit sich gebracht. Wir reden auch oft über den Tod, aber ich komme nie von mir aus mit dem Thema, das muss von den Kindern kommen. Ein Kind hat einmal beim Zeichnen der Familie gefragt, ob der Papa auch auf das Bild darf, denn der ist schon gestorben. Und über Zeit und Unendlichkeit machen sich schon die Kleinsten Gedanken.

derStandard.at: Wie klein sind die Kleinsten?

Camhy: Wir gehen schon in die Kindergärten. Zum Beispiel mit "Jeu dramatique", wo spielerisch philosophiert wird.

derStandard.at: Welche anderen Themen kommen oft von Kindern?

Camhy: Fairness, Freundschaft und Geheimnisse. Das Geheimnis ist in Zeiten von Facebook besonders interessant. Wir machen im Mai den nächsten Kongress zum Thema Cybermobbing. Man kann junge Menschen gezielt vorbereiten auf die Umbrüche in unserer Gesellschaft. Wenn man Dinge erst hinterfragt und analysiert, handelt man später auch anders.

derStandard.at: Erhalten Sie auch Feedback von Eltern, die eine Veränderung bei ihren Kindern bemerken?

Camhy: Ja, denn im besten Fall gehen die Kinder ja nach Hause und philosophieren dort weiter. Eine Mutter hat gesagt, ihr kleiner Sohn hat sie gefragt, wie sie denkt – in Farbe oder Schwarz-Weiß? Die Kinder denken auch gerne über das eigene Denken nach, wenn sie noch nicht schreiben können, zeichnen sie es auch auf – also ihre Gedanken.

derStandard.at: Wie schaut so ein Gedanke aus?

Camhy: Manchmal wie eine Spirale. (Colette M. Schmidt, derStandard.at, 17.10.2014)