Man muss schon ein ziemlicher Zahlenfuchs sein, um zu verstehen, wie die EU-Kommission zu ihrer Einschätzung kommt, ob das Budget eines Mitgliedsstaates nachhaltig ist oder eben nicht. Bei all der zulässigen Kritik an den Modalitäten, denen gemäß das strukturelle Defizit berechnet wird, darf aber eines nicht vergessen werden: Die grundsätzliche Idee, konjunkturelle Schwankungen herauszurechnen, ist sinnvoll.

Ein Staat, der wegen einer kurzfristigen Bankenkrise schwer ins Minus rutscht, hat nicht zwingend ein längerfristiges Geldproblem. Umgekehrt kann ein Finanzminister, der wegen einmaliger Privatisierungserlöse ein Plus ausweist, mittelfristig sehr wohl ein Problem haben - etwa wenn die Pensions- und Gesundheitssysteme die demografische Entwicklung nicht mitberücksichtigen.

Für die EU-Kommission ist der Umgang mit dem strukturellen Defizit ein Drahtseilakt. Die Budgetregeln sollten nicht strenger ausgelegt werden, als das bei der Einführung gedacht war. Umgekehrt darf sie kein Auge zudrücken, wenn der französische Präsident François Hollande Jahre verstreichen lässt, bevor er seine Parteikollegen endlich auf einen Reformkurs einschwört. Was Österreichs Regierung aus dem Budgetstreit lernen kann? Hätte man das Pensionssystem früher auf solide Beine gestellt, müsste man jetzt nicht über jede Wachstumskorrektur im Zehntelprozentbereich diskutieren und um die Steuerreform zittern. (Günther Oswald, DER STANDARD, 17.10.2014)