Ja, eh: Es ist nur Laufen. Das kann und tut jedes Kind. Trotzdem kann man sich in Lauftechnikübungen so lange verzetteln, bis man vor lauter Denken nicht mehr weiterkommt

Manchmal verstecken wir uns. Im Schlosspark von Schönbrunn gibt es nämlich jede Menge Nischen, in denen man vor neugierigen Blicken sicher ist. Und wenn Sie jetzt sagen, Sie stünden da drüber, kommt wieder einmal die Einladung zum Selbstversuch: Laufen Sie, egal wo, gemütlich vor sich hin. Bleiben Sie abrupt stehen. Trippeln Sie jetzt im Stand. Erst langsam, dann immer schneller. Und schauen Sie, was ringsum passiert.

Ja, eh: Andere Läuferinnen und Läufer werden nichts sagen. Oder wissend lächeln. Oder was auch immer man tut, wenn man sieht, dass ein anderer etwas tut, das seltsam aussieht, aber Sinn macht.

Aber: Läufer zählen nicht. Eben weil sie nichts sagen. Wenn man dann aber zum dritten Mal den Witz hört, dass "ein bisserl Vorlage bewirkt, dass die Füße vor- und nicht nebeneinander aufsetzen, dann wird draus Fortbewegung", gibt man auf. Und wenn Erwachsene quer durch Schönbrunn rufen, dass das nächste Klo "eh ums Eck" ist, verzieht man sich. Nicht um zu pinkeln, sondern um im Stand Gas zu geben: Willkommen beim "Ministry of Silly Walks" a. k. a. "Lauf-ABC".

Foto: Thomas Rottenberg

Ja, eh: Es ist nur Laufen. Das kann jedes Kind. Also ist es einfach. Gut so. Alles, woraus man eine Wissenschaft macht, wird mühsam. Verkopft. Verkrampft. Dogmatisch. Trotzdem: Wer sich je einen Trainingsplan schreiben ließ (oder aus dem Netz lud), stößt irgendwann auf das Lauf-ABC. Oder die Laufschule. Oder bekommt sonst wie Lauftechnik aufgebrummt.

Natürlich kann man die auch auslassen. Weil schließlich jedes Kind … Aber: Kochen kann auch jeder. Und singen. Und Integrieren. Irgendwie halt. (Okay, das letzte Beispiel war nicht ganz passend.) Trotzdem gibt es beim Ergebnis Unterschiede, die schon, lange bevor man in die Haubenkoch- oder Opernsolistinnenliga vorstößt, auffallen.

Foto: Thomas Rottenberg

Lauf-ABC also. Übungen gibt es unzählige. Trippeln. Anfersen. Knie heben. Hopserlaufen. Mit nach hinten durchgestrecktem Bein laufen. Sprunglaufen. Kombinationen aus alledem. Seitlich laufen: vorne gekreuzt, hinten gekreuzt, abwechselnd gekreuzt. Seitlich hopsen. Und so weiter und so weiter und so weiter. Jedes Mal, wenn ich glaube, jetzt alles durchzuhaben, kommt irgendwer und sagt: "Das wäre übrigens auch eine Variante."

Wenn man es schlau angeht, kann man sich bei den besonders doof aussehenden Übungen zwischen den Hecken verstecken. Oder sich im Wald nur vor Fuchs und Hase zum Affen machen. Weniger vorausplanende Menschen (ich zum Beispiel) sind aber dann, wenn 30 Sekunden Hopserlauf auf dem Plan stehen, mitten im Volksgarten. Zwischen Burgtheater und Diskothek. Links endlose Rosenreihen, rechts asiatische Touristen: Wenn Koreaner laut lachen, muss es seltsam aussehen. Die Monthy-Python-Frage kommt aber nur von Europäern. "Oh, isn't it lovely, my dear? Look: Those funny Austrians do have their own Ministry of Silly Walks." Andererseits: Wann hört man heutzutage von einem Touristen noch schönes Oxford-Englisch?

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich hat das - abgesehen von der Erheiterung der Umwelt - einen Sinn. So macht es das Zerlegen von Bewegungen leichter, eingelernte Fehler zu entdecken und dann zu eliminieren, erklärt "Runtasia"-Kopf Walter Kraus: "Das Lauf-ABC zerlegt die Phasen des Laufschritts und überbetont sie. Dadurch wird dem Körper ein neues Bewegungsmuster präsentiert, das vielleicht besser ist als das andere. Der Körper wird automatisch auf das neue Bewegungsmuster zurückgreifen, wenn man ihm diese Möglichkeit öfters präsentiert. Das passiert nicht in wenigen Wochen."

Kraus betont aber, dass es um mehr geht: "Dazu gehören auch Techniktraining, Beweglichkeit und Kraft. Je länger man läuft, desto fester ist das bestehende Bewegungsmuster eingefahren und umso größer sind die Risiken, sich durch eine Änderung zu verletzen." Dennoch gelte das Vorbeugen-ist-besser-als-Heilen-Prinzip. "Laufanfänger haben mit der Laufschule den größten Nutzen."

Foto: Thomas Rottenberg

Ähnlich formuliert es die Profiläuferin und Betreiberin der Trainings- und Triathlon-Plattform "Tristyle", Elisabeth Niedereder: "Sinn und Zweck jedes Lauftechniktrainings ist Ökonomie. Denn auch nur kleine Ausweichbewegungen summieren sich auf einer langen Distanz und kosten Energie. Also auch Zeit. Es geht aber auch um Verletzungsprophylaxe: Unsauberes Laufen überlastet Sehnen, Bänder und Gelenke oder kann zu Verspannungen und Muskelschmerzen führen. Und: Es schaut einfach leiwander aus, mit einem schönen Stil zu laufen", sagt Niedereder und mailt danach: "Okay, den dritten Satz kannst du auch weglassen." Nö, sicher nicht: Man muss ja nicht unbedingt sagen, dass man nur deshalb an der Technik feilt, aber störend ist ein attraktiver Stil wohl auch nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Ein bisserl prinzipieller antwortet meine eigene Trainerin auf die Frage, wieso ich diese ABC-Einheiten in jedem Trainingsplan finde. "Lauftechniktraining," erklärte Sandrina Illes, "ist kein Runterrasseln von Lauf-ABC-Übungen, sondern das sich Bewusstmachen seiner individuellen Stärken und Schwächen und das gezielte Arbeiten daran." Da mit 1.000 unterschiedlichen Übungen loszulegen wäre kontraproduktiv: "Meist sind nur wenige Übungen nötig oder sinnvoll."

Wichtig sei es, die individuell richtigen zu finden: Einfach aus dem Netz oder einem schlauen Buch zu übernehmen sei selten der Weisheit letzter Schluss. Ebenso, sich an Vorbilder anzuhängen: "Wenn jemand an der Lauftechnik arbeitet, versucht er meist, einen Stil zu 'kopieren', vergisst aber, dass gerade Slow-Motion-Aufnahmen von Spitzenläufern keine gute Anleitung für den Grundlagenlauf bieten."

Dass nur schnelles Laufen technisch gutes Laufen sei, ist ein Irrglaube, der aus diesem Kopieren entstehe: "Man kann beim lockeren Lauf sehr wohl auch eine schöne Technik haben – wäre schlimm, wenn nicht, schließlich legt man die meisten Kilometer im individuellen Grundlagentempo zurück. Pauschalaussagen wie 'Unter sechs Minuten pro Kilometer läuft man sowieso schlecht' sollten keine Richtlinie darstellen, sondern eher motivieren, auch (und gerade) fürs langsame Laufen an seiner Technik zu arbeiten."

Foto: Sandrina Illes

Gleichwertig mit dem ABC und der Technik sieht Illes daher auch die Analyse von Lauf- und Gehstil: "Guter Laufstil ist individuell, aber den meisten Läufern gemein ist eine zu geringe Frequenz – daher überlange Schritte mit zu wenig Stabilität, zu hartem Aufprall. Daran kann man arbeiten, und es zeigen sich schnell Fortschritte. Die meisten machen sich aber zu viele Gedanken über Schuhe und im Gegenzug viel zu wenige über die Lauftechnik."

Dabei sei das beste Mittel ohnehin die Reduktion. "Barfußlauf ist super. Aber manche Barfußschuhe verleiten manchmal erst recht zu schlechtem Laufstil, wenn man sich überfordert."

Überforderung beziehe sich da nicht nur auf Parameter wie Dauer und Tempo, sondern auch auf das, was im Kopf passiert: Lauftechnikübungen fordern und fördern die Koordination. Zwischen Kopf und Bein. Oder Bein und Bein. Oder Arm und Bein. Doch das Vertrackte ist auch: Sobald man anfängt, sich über etwas wirklich Gedanken zu machen, wird es komplex. Und kompliziert. Ganz besonders, wenn man darüber nachdenkt, während man es tut. Das gilt für alles. Sogar fürs Laufen. Obwohl das jedes Kind kann. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 16.10.2014)

Foto: Sandrina Illes