So sichtbar wie jetzt war der Fußabdruck der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) noch nie. Sie scheint sich auf die Fahnen geheftet zu haben, die eigene Währung niedrig zu halten und Ramschpapiere in großem Stil aufzukaufen. Die Notenbank gehe mit ihrer Politik hohe Risiken ein und überschreite damit ihre Legitimität, meint der ehemalige Chefökonom der EZB, Jürgen Stark. Den Preis dafür könnte der Steuerzahler zahlen müssen.

derStandard.at: Sie gehörten zu den prägenden Persönlichkeiten beim Wechsel von der D-Mark zum Euro. War der Euro aus heutiger Sicht ein Fehler?

Stark: Der Euro an sich war kein Fehler. Ein Fehler war es aber sehr wohl, 1998 Länder zu schnell in den Euro aufzunehmen, die unzureichend auf die Bedingungen einer Währungsunion vorbereitet waren. Bereits damals habe ich vor einer Konvergenz-Illusion gewarnt: einer Illusion, dass ein Gleichlauf der Volkswirtschaften erreicht wurde, der in dieser Form aber nicht bestand und der auch nicht nachhaltig genug war. Von diesen Ländern erwartete man, dass der Euro Druck auf Reformen ausüben würde. Das ist leider nicht geschehen.

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derStandard.at: Die EZB hat ihre eigene Medizin im Kampf gegen die Schuldenkrise. Ist das ein gangbarer Weg?

Stark: Wir haben es nicht nur mit einer Schuldenkrise, sondern nach wie vor auch mit dem Problem zu tun, dass Länder während der Zeit ihrer Mitgliedschaft in der Währungsunion ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit verloren haben – und diese bisher auch nicht voll zurückgewonnen haben. Darüber hinaus gibt es in einigen Ländern erhebliche Probleme auf dem Bankensektor. Hier hat weder die notwendige Bereinigung der Bilanzen noch die notwendige Rückführung der Verschuldung stattgefunden. Zählt man all diese Faktoren zusammen, ist es kein Wunder, dass das wirtschaftliche Wachstum sehr blutarm ist oder – wie in einzelnen Fällen, beispielsweise Italien – ein Mitglied wieder in eine Rezession zurückfällt. Diesen Problemen kann die EZB mit ihrer Geldpolitik nur begrenzt entgegenwirken.

derStandard.at: Wie kann die Geldpolitik der EZB überhaupt Wirkung zeigen?

Stark: Sie hat die Märkte mit zusätzlicher Liquidität versorgt, und sie wird das weiter tun. Doch diese trifft auf verkrustete, wenn nicht sogar versteinerte Wirtschaftsstrukturen. Das heißt, Liquidität kann nur dort wirken, wo die strukturellen Hemmnisse für wirtschaftliches Wachstum beseitigt wurden. Das gilt für Gütermärkte und insbesondere für Arbeitsmärkte. Und, ich habe es schon angesprochen, nach Bereinigung der Bankbilanzen beziehungsweise Konsolidierung des Bankensektors. Doch derzeit droht die Geldpolitik der EZB letztendlich nicht effektiv zu sein und am Ende ganz zu verpuffen.

derStandard.at: EZB-Chef Mario Draghi will Ramschpapiere von privaten Schuldnern kaufen. Ein CSU-Politiker bezeichnete den EZB-Chef daraufhin als "Fehlbesetzung".

Stark: Dem schließe ich mich nicht an. Herr Draghi hat sich das klare Ziel gesetzt, die Bilanz der EZB massiv auszuweiten, und das setzt er auch gegen Widersprüche und Widerstände durch. Die Konsequenz ist, dass die EZB mit dem Kauf von verbrieften Krediten geringster Qualität und geringster Bonität Risiken von den einzelnen Banken oder Bankensystemen weg- und diese in ihre eigene Bilanz nimmt. Es ist nicht nur fraglich, ob ein solches Vorgehen die Kreditvergabe letzten Endes überhaupt fördern kann. Private Risiken in öffentliche oder Steuerzahler-Risiken umzuwandeln, dafür ist die EZB demokratisch nicht legitimiert. Verluste durch die Übernahme solcher Risiken führen zu einer massiven Umverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten des Euroraums.

derStandard.at: Richtet die EZB ihre Politik nur auf schwache Länder aus?

Stark: Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Geldpolitik in einer Währungsunion ist längst aufgegeben. Als die EZB vor vier Jahren begonnen hat, Staatsanleihen von Griechenland, Irland und Portugal zu kaufen, war das eine gezielte Politik zugunsten der Peripherieländer. Seit 2010 ist eine starke Differenzierung der geldpolitischen Instrumente erkennbar, die sich insbesondere nach den Bedürfnissen einzelner Länder richtet. Diese Geldpolitik wird aber auch von Ländern wie Frankreich und Italien gefordert. Die EZB ist diesen insofern nachgekommen, als sie zum Beispiel gezielt den Wechselkurs geschwächt hat. Das ist keine gesunde Politik, sondern eine sehr gefährliche, die in einem Handelskrieg enden könnte.

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derStandard.at: Sie sagten einmal, die EZB sei auf dem Weg zur Bad Bank. Was meinen Sie konkret?

Stark: Bankensysteme oder einzelne Banken, die in Probleme geraten, also einen zu hohen Anteil von faulen Krediten in ihrer Bilanz aufweisen, wurden in vielen Fällen so saniert, dass man diesen Teil der faulen Kredite aus den Bilanzen herauslöst und sie in eine Bad Bank transferiert. Damit gesundet der Kern der Bank wieder, sie hat eine saubere Bilanz, und die ausgelagerten Kredite, die Bad Bank, werden Schritt für Schritt abgewickelt. In einigen Fällen im westeuropäischen Bankensystem ist das nicht erfolgt. Durch das Herauskaufen der Kreditverbriefungen mit Ramschniveau durch die EZB ist diese somit bereits zum Teil eine Bad Bank, in der die Risiken, die davor privat waren, sozialisiert werden.

derStandard.at: Ist der Steuerzahler also der große Verlierer der EZB-Politik?

Stark: In dem Moment, wo die Risiken realisiert werden, das heißt, die Risiken wirklich eintreten und das System der EZB durch den Ankauf von solchen verbrieften Papieren Verluste macht, hat dies Folgen für die Kapitalausstattung der Zentralbanken. Gegebenenfalls erfolgt eine Rekapitalisierung über die Finanzministerien der jeweiligen Länder. Damit haftet und zahlt letztlich der Steuerzahler des Eurogebiets für die Risiken, die die EZB eingegangen ist.

derStandard.at: Wie könnte man die lahmende Wirtschaft im Euroraum wieder ankurbeln?

Stark: Aus einer Kombination von Bereinigung des Bankensektors und Strukturreformen, um die strukturellen Hemmnisse für wirtschaftliches Wachstum zu beseitigen. Öffentliche Investitionen können zwar temporär und begrenzt helfen, aber alleingestellt kein sich selbst tragendes Wachstum generieren. Öffentliche Investitionen in Infrastruktur, in Fort- und Ausbildung, in Innovationen – Forschung und Entwicklung – können helfen, letztlich das Produktionspotenzial zu stärken. Das ist insbesondere angesichts einer alternden Bevölkerung in Europa dringend notwendig. Und wir brauchen geeignete Rahmenbedingungen für private Investitionen. Das beinhaltet auch, dass Unsicherheit von den Investoren weggenommen werden muss und in Europa für die Wirtschafts- und Geldpolitik klare Prinzipien und Regeln gelten, an denen sich die Wirtschaftsakteure ausrichten können. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 15.10.2014)