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Eine zerstörte Polizeistation in der irakischen Stadt Hit vergangene Woche.

Foto: REUTERS/Stringer

Bagdad/Kairo - Wenn sich an der jetzigen Lage nichts ändere, werde Anbar binnen einer Woche fallen, warnte Ahmed Attiya al-Salamani, Parlamentsabgeordneter der strategisch wichtigen westirakischen Provinz, gegenüber einer irakischen Zeitung. Die Regierung von Anbar und lokale Abgeordnete haben sich in einem Brief an Regierungschef Haidar al-Abadi gewandt und verlangt, dass die internationale Gemeinschaft sofort einschreite, um das Blutvergießen zu beenden.

Die Luftschläge hätten im Kampf gegen die Jihadistengruppe "Islamischer Staat" (IS) nichts bewirkt. In früheren Jahren hätten die Sunniten in Anbar mit amerikanischer Unterstützung gegen Al-Kaida gekämpft, jetzt hätten nicht einmal alle Kämpfer eine Kalaschnikow, präzisierte Salamani.

Stützpunkt geräumt

Nach heftigen Angriffen der IS hatten zu Beginn der Woche 300 Soldaten und Offiziere eine Militärbasis in der Stadt Hit geräumt. Die Armee sprach nicht von einer Niederlage, sondern von einem "taktischen Rückzug". Geräte und Munition seien in die Al-Baghdadi-Militärbasis - eine der größten im ganzen Irak - in der Nähe der Stadt Haditha verlegt worden. Dort kontrolliert die Regierung noch den wichtigen Euphrat-Staudamm.

Die Gefechte in Hit haben nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR zu einer neuen Flüchtlingswelle geführt. Allein über das Wochenende seien rund 180.000 Menschen geflohen, teilte die Organisation am Dienstag mit. Bis vor kurzem habe Hit noch als sicherer Ort gegolten, weshalb dort mehr als 100.000 Flüchtlinge aus anderen Teilen der Provinz Schutz gesucht hatten. Der Massenexodus sei die vierte große Flüchtlingswelle im Irak innerhalb von weniger als einem Jahr.

In mehreren kleineren Städten der Provinz halten die sunnitischen Stammeskämpfer noch die Stellung. Die IS droht allen, die die Armee unterstützen, mit Vergeltung. Die Einwohner fürchten sich vor Massenexekutionen, sollten weitere Städte fallen.

80 Prozent unter IS-Kontrolle

Die IS-Jihadisten haben bereits etwa 80 Prozent der Provinz Anbar unter ihre Kontrolle gebracht. Hier haben sie sich bei ihrem Feldzug durch das Zweistromland zuerst festgebissen. Städte wie Falluja, Hit oder Qaim sind ganz unter IS-Kontrolle, während in anderen Regionen, vor allem in Ramadi, die Armee und lokale Stämme noch heftigen Widerstand leisten.

Fällt die Provinz Anbar, hat die IS einen offenen Korridor zwischen den von ihr kontrollierten Gebieten in Syrien und dem Irak und kann frei Kämpfer und Material verschieben. Zudem ist der Weg nach Bagdad offen. Am Wochenende gab es erste Kämpfe nur 20 Kilometer vom internationalen Flugplatz entfernt. Experten erwarten, dass die IS die sunnitischen Stadtteile im Westen der Hauptstadt wie Abu Ghraib und al-Khark im Visier hat.

Trotz der prekären Lage in der sunnitischen Provinz Anbar, wo die von den Schiiten dominierte irakische Armee besonders schwach und schlecht motiviert ist, will die Zentralregierung in Bagdad keine amerikanischen Bodentruppen auf dem Kriegsschauplatz. Da ist sie sich mit Washington einig. Diese Haltung hatte auch US-Außenminister John Kerry am Sonntag in Kairo noch einmal bekräftigt. Es seien die Iraker von Anbar, die sich gegen die IS verteidigen müssten, stellte er unmissverständlich klar. (Astrid Frefel, DER STANDARD, 15.10.2014)