Jener Teil der Karlau, der 1872 zugebaut wurde, der damals moderne dreiflügelige Zellentrakt, entstand nach US-Vorbild.

Foto: Robert Newald

Graz - "Man kann getrost vorhersagen, dass noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts das Gefängnis, wie wir es heute kennen, nicht mehr existieren wird, obwohl vielleicht das Wort Gefängnis weiterleben wird." Für Norval Morris, den Rechtsprofessor und Kriminologen, der in Harvard und der University of Chicago Law School lehrte und Fürsprecher für Rechte von Häftlingen war, waren die Tage von Haftanstalten 1965 gezählt.

Doch tatsächlich steigen die Zahlen von Gefangenen weltweit seit Jahren. In Österreich sind es derzeit rund 8000 Menschen, rund zehn Prozent davon im Maßnahmenvollzug, also geistig abnorme Rechtsbrecher, die zurechnungsfähig sind. Gerade unter Letzteren steigt die Zahl enorm, da ihre Haft bis ins Unendliche verlängerbar ist, wenn ihnen etwa Gefährlichkeit attestiert wird.

"Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass eine Gesellschaft ohne Gefängnisse möglich wäre", sagt Leo Kühberger, Sozialhistoriker der Uni Graz, der am Samstagnachmittag eine Gruppe von 19 Menschen in die Justizanstalt Karlau begleitet.

Eine Exkursion

Die Exkursion ist Teil der vom Festival Steirischer Herbst organisierten "Akademie der Asozialität", wo Wissenschaftler und Künstler Teilen und Teilhabe am gesellschaftlichen System erörterten. Kühberger betont, dass die Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft auch in Österreich nicht neu sei. Immerhin war ein langdienender Justizminister einer ihrer Anhänger: Christian Broda.

Für die diensthabenden Wachebeamten - über 100 sind es im Tagdienst, weit weniger nachts - ist die bunt gemischte Besuchergruppe ungewöhnlich. "Nein, das ist mein Künstlername", sagt eine Frau mit Sternenkleid und passendem Sternchentattoo, als Wachkommandant Robert Klein ihren Namen auf der Gästeliste sucht.

Dann geht es in das vor einer Woche eröffnete neue Besucherzentrum. Viel Glas und Licht und frisches Holz, das man noch riechen kann, beherrschen sowohl den Raum, in dem man per Telefon durch eine Glasscheibe mit den Inhaftierten spricht, als auch den größeren für "Tischbesuche", der optisch an einen Speisesaal erinnert. Daneben ist eine kleine Einheit mit (vergitterter) Loggia für sogenannte "Langzeitbesuche". Es gibt ein eigenes kleines Bad und eine noch verpackte Couch. Hier können nicht nur Frauen ihre Ehemänner bis zu 14 Stunden und auch über Nacht besuchen, sondern seit einer Gesetzesänderung jeder, der zuvor dreimal auf Besuch war.

Sieben Quadratmeter pro Häftling

"Das Geschlecht ist egal", sagt Klein, "wir haben auch eine eingetragene Partnerschaft unter den Häftlingen". Am Samstagnachmittag ist hier alles leer. Die Häftlinge befinden sich ausschließlich in ihren Zellen, Dreier- und Viererzimmer mit je sieben Quadratmetern pro Häftling.

Klein führt die Gruppe weiter in den alten Teil der Karlau durch ein großes Tor - eine einsame Erinnerung daran, dass der Kern der Anstalt, die seit Jahrzehnten eine Dauerbaustelle ist, einst ein Jagdschloss war. Erzherzog Karl II. von Innerösterreich ließ es im 16. Jahrhundert in die Mur-Auen bauen. Unter Maria Theresia wurde es 1769 zum Gefängnis.

Im ersten Stock erstrecken sich lange Gänge mit weißen Wänden und hellgrünen Eisentüren. Während Klein die Sicherheitssysteme erklärt und die große katholische Kapelle und den kleineren von evangelischen Christen und Muslimen genutzten Gebetsraum zeigt, ist es überall im Haus totenstill. 506 Häftlinge sind in dem für 502 konzipierten Gefängnis anwesend, und absolut niemand ist zu sehen oder zu hören.

Seltene Veranstaltungen

"In der Kapelle gibt es auch Veranstaltungen", erzählt Klein, "aber selten, die finanziellen Mittel sind klein". Alf Poier sei zuletzt hier gewesen. "Früher auch die Erika Pluhar, wie der Proksch bei uns gsessen ist", weiß Klein, der seit 33 Jahren im Haus ist.

Durch die Fenster vom Betraum sieht man hinab auf den "Spazierhof Nord", den kleineren der Höfe, wo täglich hunderte Männer im Kreis gehen. Die Gehwege im Gras sind betoniert und umrunden drei Tischtennistische. Den anderen, nicht weniger tristen Spazierhof sieht man von der Bibliothek aus. Hier stehen Bücher in 17 Sprachen. Die meisten sind Spenden. Als man Fernseher und Computer (ohne Internetanschluss) in den Zellen erlaubte, ließ das Interesse nur vorübergehend nach.

Die gesammelten Werke von Max Frisch findet man ebenso wie Sachbücher mit Titeln wie "Die Gestapo" oder "Mohammed in Europa" oder Otto Schenks Biografie "Warum mir so fad ist". Gibt es verbotene Bücher? "Nur Bücher, die die Sicherheit gefährden, beispielsweise Anleitungen zum Bombenbau", meint der Wachkommandant.

Vorbild Pennsylvania

1869 bis 1872 wurde ein dreiflügeliger Zellentrakt zugebaut, der damals nach Vorbild der Gefängnisarchitektur in Pennsylvania modern war. Von einem Punkt aus sollen Wachen alle Stockwerke überblicken können.

Angrenzend liegt das Wirtschaftsgebäude. Die jüngsten Insassen sind 19. Man kann in den Gefängnisbetrieben eine Lehre machen, etwa als Koch, Kellner, Elektriker, Maler, Schuster oder Buchbinder. "Ja, es klingt komisch", sagt Klein, in einer Werkstatt umgeben von Werkzeugen und Maschinen, "man kann im Gefängnis Schlosser lernen." Beliebter sei aber die Gärtnerei.

300 Handys pro Jahr konfisziert

Vor dem Wirtschaftsgebäude befindet sich ein grüner Innenhof, über den eigentümliche Schnüre gespannt sind. Angehörige hatten hier Drogen, Handys oder Internetmodems ins Areal geworfen. "300 Handys nehmen wir im Jahr ab", so Klein. Streng organisierte Hierarchien unter den Häftlingen sorgen dafür, dass alles beim jeweiligen Empfänger ankommt. Aus besagtem Hof hatten Häftlinge das Hereingeworfene mit Zahnseide von den Zellenfenstern aus vom Rasen gefischt. Die gespannten Schnüre verhindern das nun.

Die Flucht gelang in den letzten Jahrzehnten keinem. Drei versuchten es seit 1995. Die Gruppe verabschiedet sich. Man hat eher nicht vor, wiederzukommen. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 13.10.2014)