Bild nicht mehr verfügbar.

"Von den Kindern, die 2014 auf die Welt gekommen sind, werden mehr als die Hälfte 106 Jahre alt", sagt Demograf James Vaupel.

Foto: Corbis/Studio Hagedorn/Rostock

STANDARD: Als Statistiker verfügen Sie über eine riesige Datensammlung zur statistischen Lebenserwartung weltweit. Je reicher ein Land, in dem man lebt, desto älter wird man. Stimmt das?

Vaupel: Tendenziell, aber nicht ganz. Die höchste Lebenserwartung haben derzeit die japanischen Frauen: gut 86 Jahre.

STANDARD: Lag Japan schon immer vorn?

Vaupel: Nein. 1840 schnitten noch die schwedischen Frauen am besten ab, 45 Jahre betrug deren durchschnittliche Lebenserwartung damals. Später übernahm Norwegen die Führung, dann lag Neuseeland vorn, erneut Schweden und schließlich Japan. Lauter relativ reiche Länder. Noch typischer ist jedoch: In Ländern mit hoher Lebenserwartung werden die Menschen meist gleich alt.

STANDARD: Wie kommt das?

Vaupel: Da sind noch viele Fragen offen. Manche Experten vermuten, dass der häufige Konsum von Fisch - wie besonders in Japan und Skandinavien üblich - generell ein langes Leben begünstigt. Doch Belege dafür gibt es bisher nicht. Wahrscheinlich sind gut ausgebaute Sozialsysteme sowie die Bereitschaft der Menschen, einander gegenseitig zu helfen, die entscheidenden Faktoren.

STANDARD: Einer Ihrer Kollegen behauptete kürzlich in einem Essay: "72 ist das neue 30." Stimmt das?

Vaupel: Durchaus. Unsere Forschung hat gezeigt, dass heutige 70-Jährige so fit und gesund sind, wie vor 50 Jahren die 60-Jährigen. Da drängt sich die Frage auf, in welchem Alter man in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte gebrechlich wurde. Mein Kollege Oskar Burger forschte über sogenannte Naturvölker, die bis heute ähnlich leben wie die historischen Jäger und Sammler vor 10.000 Jahren. Er stellte fest, dass bei solchen Völkern die Mortalität der 30-Jährigen so hoch ist wie in modernen Industriegesellschaften diejenige der 72-Jährigen.

STANDARD: Sind genetische Faktoren oder Umwelteinflüsse entscheidend?

Vaupel: Bei der Lebenserwartung ist die Sache inzwischen klar: Die Gene spielen nur eine untergeordnete Rolle. Breit angelegte Studien mit Zwillingen aus Skandinavien und den USA kamen zum gleichen Ergebnis: Der genetische Einfluss beträgt rund 25 Prozent. Anders gesagt: Drei Viertel haben mit den Genen nichts zu tun! Am stärksten wirkt sich die Lebenssituation aus: Sorgt eine Person jetzt gut für sich? Hat sie einen Arzt oder ein Krankenhaus in unmittelbarer Nähe?

STANDARD: Welche Rolle spielt Prävention?

Vaupel: Unlängst habe ich im Magazin Science die Studie "It's never too late" publiziert. "Es ist nie zu spät." Selbstverständlich wirkt sich der gesamte Lebenslauf aus: Wer jahrzehntelang geraucht hat, trägt ein höheres Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, als die Gleichaltrigen, die nie eine Zigarette angerührt haben. Als ganz besonders wichtig für die individuelle Gesundheit und Lebenserwartung erwies sich jedoch das Hier und Jetzt.

STANDARD: Sie haben viele Menschen, die mehr als 100 Jahre alt sind, getroffen: Was verbindet diese Methusalems?

Vaupel: Meist sind es Frauen, je nach Nation bis zu zehnmal mehr als Männer. Verblüffend ist, wie verschieden sie sind: Einige ernähren sich vegetarisch, andere essen vorwiegend Fleisch. Einige sind verheiratet, andere leben allein; einige haben Kinder, andere nicht. Großgewachsene, Kleine, Arme, Reiche - da ist alles dabei. Einige rauchen sogar. Kettenraucher sind unter den Methusalems allerdings enorm selten. Die meisten über Hundertjährigen haben nie geraucht. Kleine Mengen Alkohol scheinen hingegen für ein langes Leben förderlich zu sein.

STANDARD: Ist Altwerden Charaktersache?

Vaupel: Lebensfreude, Optimismus und Humor haben einen starken positiven Einfluss auf die Lebenserwartung. Aber selbst da gibt es Ausnahmen: Ich erinnere mich an eine 111-jährige Dänin, die seit vielen Jahren darauf hoffte, endlich sterben zu dürfen. Sie war früh verwitwet, einsam und unglücklich. Sie litt an Tuberkulose und Brustkrebs - und überlebte alles.

STANDARD: Werden die Menschen künftig noch älter werden?

Vaupel: Mit Sicherheit. Seit 1840 steigt die Lebenserwartung in Europa konstant. Rund drei Monate nimmt sie jedes Jahr zu: Die meisten der im Jahr 2000 in Mitteleuropa geborenen Kindern werden ihren 100. Geburtstag feiern. Und von den Kindern, die 2014 zur Welt kamen, würde ich schätzen, werden mehr als die Hälfte 106 Jahre alt. Viele Frauen fühlen sich schlecht, wenn sie erst in reiferem Alter Kinder bekommen. Dabei tun sie dem Nachwuchs damit bezüglich der Lebenserwartung Gutes. Jedes Jahr, das eine Frau später schwanger wird, schenkt ihrem Kind statistisch gesehen zwölf zusätzliche Wochen.

STANDARD: Unsere Pensionssysteme sind durch den demografischen Wandel gefährdet. Warum behaupten Sie, dass, wenn die Älteren nur ein paar Jahre länger arbeiten, alle Probleme gelöst sind?

Vaupel: In Skandinavien wird derzeit ein Konzept diskutiert, das ich für pragmatisch halte: Das Pensionsalter berechnet sich demnach künftig aus: "Statistische Lebenserwartung minus 17 Jahre." Bei 82 Jahren mittlerer Lebenserwartung läge es also bei 65 Jahren. Und wenn unsere Kinder und Kindeskinder 100 Jahre alt werden, sollen sie eben bis 83 arbeiten. Man könnte dann die wöchentliche Arbeitszeit aller Berufstätigen reduzieren, das System wäre noch immer nachhaltig.

STANDARD: Manche Resultate aus der Demografie-Forschung wirken belustigend: Wer im Herbst geboren wird, soll länger leben. Warum?

Vaupel: Diesen Einfluss gibt es. Er gilt allerdings nur für die nördliche Hemisphäre. In Australien verhält es sich genau umgekehrt. Es ist kein riesiger Effekt, macht nur einige Monate aus.

STANDARD: Wie das?

Vaupel: Anfangs spekulierten wir, dass reichere Eltern ihre Kinder eher im Herbst bekommen. Das scheint nicht zu stimmen. Bei Kindern, die im Herbst geboren wurden, können die Mütter während der letzten sechs Monate der Schwangerschaft jedoch viel frisches Gemüse und Früchte essen. Die Mütter der "Frühlingsbabys" ernähren sich in den entscheidenden Monaten meist weniger gesund. Meine Kollegen untersuchten das vor allem an Kindern, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Welt kamen, als die Lebensbedingungen härter waren. Heute ist der Effekt schwächer.

STANDARD: Gibt es auch eine ideale Körpergröße für die Lebenserwartung?

Vaupel: Wer etwas größer als der Durchschnitt ist, lebt in der Regel auch etwas länger. Ab einer gewissen Größe sinkt die Lebenserwartung allerdings wieder. Es ist eine u-förmige Kurve. Bei norwegischen Männern etwa - es scheint da regionale Unterschiede zu geben - erwies sich eine Körpergröße von 195 Zentimetern als ideal für eine hohe Lebenserwartung.

STANDARD: Sie sagten kürzlich, dass die Medizin für Hochbetagte gar nicht so teuer sei, wie behauptet wird.

Vaupel: Richtig. Die wirklich Alten sterben am Ende häufig an Herzinfarkt, Grippe oder einem Schlaganfall - also an Dingen, deren Bekämpfung lange nicht so teuer ist wie etwa die von Krebs. Und die Häufigkeit vieler Tumorerkrankungen nimmt bereits ab dem 75. Altersjahr wieder ab.

STANDARD: Stimmt es, dass in sehr hohem Alter ein Punkt erreicht ist, an dem das Risiko zu sterben wieder sinkt?

Vaupel: Ab dem 30. Altersjahr steigt dieses Risiko langsam aber kontinuierlich. Das Verblüffende: In einem sehr hohen Alter, mit 110 Jahren, wird es plötzlich nicht mehr höher. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben sinkt zwar nicht - sie bleibt konstant.

STANDARD: Wie ist das möglich?

Vaupel: Nur sehr robuste Menschen erreichen ein so hohes Alter. Und die sind offensichtlich so widerstandsfähig, dass viele von ihnen noch gut weiterleben können. Die Statistik zeigt: Jedes Jahr stirbt die Hälfte der über 110-Jährigen, die andere überlebt. Und genauso ist es auch mit 111 und 112 Jahren.

STANDARD: Altern diese Methusalems plötzlich nicht mehr?

Vaupel: Doch. Trifft man Sie ein Jahr später wieder, so sind sie ganz offensichtlich älter geworden. Aber viele sterben trotzdem nicht.

STANDARD: Träumen Sie davon, in ferner Zukunft selbst Ihren 112. Geburtstag zu feiern?

Vaupel: Der Schriftsteller Jonathan Swift hat einmal so schön gesagt: "Jeder will lange leben - und keiner alt sein." So geht es mir auch. (DER STANDARD, Till Hein, 11./12.10.2014)