Wenn einem danach ist, lässt es sich auf der zwischen den Hallen gelegenen Agora der Frankfurter Buchmesse trefflich zwischen Würstelständen, der Weleda Nachtkerzen Oase, sowie haushohen Werbungen für einen südkoreanischen Handyhersteller flanieren. Allerdings braucht man von hier, wo der 256 Meter hohe Messeturm wie ein umgekehrter Bleistift aus dem Boden ragt, nur einige Stationen mit der U-Bahn zu fahren, um auf ein gänzlich anderes Frankfurt zu treffen.

Gibt die Stadt mit ihrem Bankenviertel gern die Diva vom Main, wirkt sie in den Außenbezirken eher wie ein Barmädchen aus dem Wilden Westen: lebensgeprüft, mit zweifelhaftem Ruf aber einem goldenen Herz. Hier trinken sie in den Kneipen ihr "Stöffsche" und hoffen, dass die Nationalmannschaft, die in Frankfurt trainiert, auch in der EM-Quali die "Erbse" wieder reinmacht.

Außenbezirke heißt auch ein früher Roman des frischgekürten Nobelpreisträgers Patrick Modiano, dessen Werk die Frage stellt, ob das Erzählen dem Gewicht der schwankenden Welt standhalten kann. Die Antwort lautet natürlich: "ja".

Beckett schrieb, "die Tränen der Welt sind unvergänglich, für jeden, der aufhört zu weinen, fängt ein anderer an." Unsere Tränen werden also immer auch von anderen geweint. Man ist nicht allein. Das war man auch beim überraschend angesagten Messeauftritt Helmut Kohls nicht. Der von schwerer Krankheit gezeichnete "Kanzler der Einheit", der in Frankfurt Henry Kissinger und den früheren US-Außenminister James Baker getroffen hatte, war anlässlich der Wiederauflage seines Buches Vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung - umringt von Bodyguards - im Rollstuhl zum Verlagsstand gebracht worden. Verfasst hat Kohl das Buch - es handelt sich um Auskoppelungen seiner Erinnerungen - vor Jahren mit jenem Heribert Schwan, gegen dessen Gesprächsprotokolle er momentan vorgeht. Schwans Name wurde nicht erwähnt.

Es wurde dann ein Auftritt der beklemmenden Art vor einer neuen, aus Kameras errichteten Mauer. Und man hatte das Gefühl, dass hier einer vorgeführt wurde - oder sich vorführen ließ. Aus Sorge um Europa heißt übrigens ein hundertseitiger "Appell" Kohls, der im November erscheint. (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 10.10.2014)