Drei Wochen dauert nun schon der Kampf um die kurdische Grenzstadt Kobanê, ohne sichtbares Zurückdrängen der IS-Terrormiliz. Vielen Kurden in Europa ist der Geduldsfaden gerissen. Bei Demonstrationen in der Türkei, aber auch in Deutschland kam es nun erstmals zu Ausschreitungen mit Toten und Verletzten. Der Politologe Kerem Öktem erklärt, wer einander bei den Straßenschlachten gegenübersteht und welche Strategie die Regierung in Ankara an der syrischen Grenze verfolgt.

derStandard.at: Die Ausschreitungen bei Kurden-Demos in Deutschland sind nach Meinung der Polizeigewerkschaft ein "Stellvertreterkrieg auf deutschem Boden". Wie groß ist die Gefahr, dass sich das ausbreitet?

Öktem: Ganz ausschließen kann man das nicht. Wenn wir auf die 90er-Jahre in Deutschland zurückblicken, gab es da große Auseinandersetzungen. Beispielsweise die Autobahnblockaden durch PKK-nahe Nationalisten. Auch das war damals direkt verbunden mit Repressionen des türkischen Staates gegen die Kurden. Das heißt, diese Verbindung zwischen den politischen Konflikten in der Türkei, im Nahen Osten, in Syrien und im Irak hat immer das Potenzial, sich in den Migrantengemeinden in Deutschland und Österreich zu spiegeln. Wenn Kobanê tatsächlich fällt und sich die Proteste in der Türkei verstärken, mehr Menschen sterben, kann man nicht ausschließen, dass die Kurden durch diese Frustration auf die Straße getrieben werden und sich durch die Konfrontation mit anderen Gruppen das Gewaltpotenzial erheblich erhöht.

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Kundgebung der kurdischen Partei BDP in der Türkei.
Foto: Reuters/Orsal

derStandard.at: Wer steht sich da gegenüber, und wo verlaufen die Fronten?

Öktem: Auf der einen Seite sind es die aus der Türkei stammenden Kurden, die der kurdischen nationalen Bewegung unter der symbolischen Führung von Abdullah Öcalan nahestehen. Die syrische Partei der Demokratischen Union (PYD), die derzeit gegen die IS-Miliz kämpft, ist auch mit der PKK verbunden. Eine Mehrheit der Kurden in Deutschland und Österreich steht dieser politischen Bewegung grundsätzlich nahe.

Auf der anderen Seite stehen, vereinfacht gesagt, Menschen, die mit der IS-Miliz sympathisieren. Bei den Ausschreitungen im deutschen Celle waren es zum Beispiel vor allem Tschetschenen. Dann gibt es auch Gruppen, die Kurden und die nationale kurdische Bewegung als den Feind ansehen. Das können sogar türkisch-nationalistische Gruppen sein. Den Kurden steht also ein sehr ungleiches Konglomerat gegenüber. Zum Teil mag es dann noch einmal ganz andere, lokale Hintergründe geben. In Hamburg kann man nicht ausschließen, dass da auch Mafia-Organisationen beteiligt waren, die dem jeweiligen Gegenüber eins auswischen wollten.

derStandard.at: Die Kurden begründen die Proteste damit, dass zu wenig getan wird gegen den Vorstoß der IS-Miliz, insbesondere vonseiten der Türkei. Gibt es so etwas wie eine bewusste Verweigerungshaltung, den Kurden ausreichend zu helfen?

Öktem: Auf europäischer und amerikanischer Ebene gibt es keine überlegte Abwehrhaltung. Es ist einfach die Trägheit der internationalen Gemeinschaft, die hier mitspielt. Und auch die Angst der Obama-Administration, in einen neuen Krieg im Nahen Osten hineingezogen zu werden. So wie es aussieht, muss man, um den Kurden wirklich zu helfen, aber einmarschieren. Der politische Preis dafür ist aber sehr hoch.

Erdogan wiederum hat gesagt, dass er grundsätzlich für ein Einschreiten in Syrien ist. Allerdings unter zwei Bedingungen: Zum einen soll eine humanitäre Pufferzone geschaffen werden. Und zum anderen muss es ein gemeinsames Vorgehen der Alliierten geben, das auch das Ziel hat, die Regierung Assad zu stürzen. Das sind grundsätzlich keine falschen Forderungen, sie haben aber wichtige Nebenwirkungen: Falls es einen Bodeneinsatz gibt, würde das bedeuten, dass die Türkei in kurdisches Gebiet einmarschiert. Während Syrien überall sonst in Terror und Anarchie versunken ist, gibt es in den drei kurdischen Kantonen eine stark autonome Regierungsform, demokratische Strukturen und auch den Versuch, eine multikulturelle Gesellschaft aufrechtzuerhalten, Christen und Jesiden zu schützen. Die durchaus berechtigte Angst vieler Kurden ist, dass ein Einmarsch der Türkei zum Ziel hat, diese Eigenstaatlichkeit zunichtezumachen.

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Ein verletzter Demonstrant wird abtransportiert.
Foto: Reuters/Stringer/Turkey

derStandard.at: Was verlangen die Kurden dann in der Region von der Türkei?

Öktem: Salih Muslim, der Chef der Partei der Demokratischen Union, hat letzte Woche ganz klar gesagt, dass ein türkischer Einmarsch in die Kantone nicht gewünscht ist. Stattdessen soll die Türkei die Grenzen öffnen und schwere militärische Artillerie an die kämpfenden Kurden weiterreichen. Diese Forderung ist durchaus sinnvoll und wäre auch zu erfüllen gewesen.

Die Türkei ist ja dem Vorwurf ausgesetzt, die IS-Miliz zumindest passiv mitunterstützt zu haben. Es ist mit Sicherheit zu sagen, dass die Türkei den verschiedenen Kämpfern gegen das syrische Regime gute Möglichkeiten geboten hat: etwa die Möglichkeit des Grenzübertritts, aber auch bei Verwundung in türkischen Krankenhäusern behandelt zu werden. Das ist eine Unterstützung, die unterhalb einer offiziellen Politik stattfindet. Würde diese gleiche Politik auch gegenüber den kurdischen Kämpfern angewendet, würden wir jetzt ganz woanders stehen. Zum einen wäre die kurdische Position in Syrien jetzt stärker, zum anderen wären weder die 22 Menschen in der Türkei gestorben, noch hätte es die Auseinandersetzungen in Deutschland gegeben.

derStandard.at: Wo ist der Punkt, an dem sich auch die Regierung in Ankara von der IS-Miliz bedroht oder angegriffen fühlt?

Öktem: Es sieht ganz so aus, als ob es überhaupt nicht im Interesse der IS-Anhänger steht, in der Türkei einzugreifen oder irgendetwas zu tun, was die Türkei gegen sie aufbringen würde. Das würde einem Selbstmordversuch gleichkommen.

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Ein türkischer Panzer an der Grenze zu Syrien.
Foto: AP/Pitarakis

derStandard.at: Die IS-Miliz expandiert in alle Richtungen. Wieso ist bei der Türkei dann Schluss?

Öktem: Man darf die IS-Miliz nicht unterschätzen. Das sind natürlich auf der einen Seite Terroristen mit barbarischen Methoden, natürlich folgen sie aber auch einem militärischen Kalkül. Es kann nicht in ihrem Interesse sein, die zweitgrößte NATO-Armee gegen sich aufzubringen. 600.000 bis 800.000 Soldaten, wovon die Hälfte jederzeit an die türkische Grenze kommen kann – das ist ein Machtfaktor, den auch die IS nicht ignorieren kann.

derStandard.at: In den Reihen kurdischer Kämpfer sieht man immer wieder Frauen. Dem vorherrschenden Bild von der untergeordneten muslimischen Frau entspricht das nicht. Woher kommt diese Tradition?

Öktem: Das ist ganz klar der kurdischen nationalen Bewegung in der Türkei entsprungen. Die PKK hat eine sehr große Anzahl von weiblichen Kämpfern. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die kurdische nationale Bewegung seit dreißig Jahren eine unglaubliche Auswirkung auf die Emanzipation von Frauen gehabt hat. Das ist auch ein großer Inhalt, weil die Bewegung ein Nationsbildungsprojekt, aber auch ein Modernisierungsprojekt ist, das ganz ähnlich wie die türkische Modernisierung in den 1930ern sehr auf die Rolle der Frau geachtet hat. Deswegen gibt es zum Beispiel bei der kurdischen Partei in der Türkei, der BDP (Partei für Frieden und Demokratie), für fast alle Posten eine Doppelbesetzung mit einem Mann und einer Frau. (Teresa Eder, derStandard.at, 9.10.2014)