Einen Film wird es schon hergeben oder gar einen Roman, wenn sich später einmal jemand hinsetzt und alles aufschreibt: die Einnahme der Stadt Kobanê durch eine Islamistenarmee, zäh verteidigt von den Kurden - Frau und Mann -, sorgfältig beobachtet von türkischen Offizieren, die mit verschränkten Armen an der Grenze stehen. Es gibt Gut und Böse, die von Beginn an hoffnungslos Unterlegenen, die Schlächter, Pharisäer, die kalten Machtpolitiker. Ein klassischer Stoff und völlig nutzlos für die letzten Kurden in Kobanê, die nun massakriert werden.

"Unsere Verbündeten in der Region waren unser größtes Problem in Syrien" , hatte der amerikanische Vizepräsident dieser Tage gesagt. Dafür musste sich Joe Biden nicht umgehend beim türkischen Präsidenten entschuldigen. Wohl aber für seinen Satz, Tayyip Erdogan hätte zugegeben, dass die Türkei in den vergangenen Jahren einen Fehler gemacht und zu viele islamistische Kämpfer nach Syrien durchgelassen habe.

Biden weiß, beides ist wahr. Doch seine Entschuldigung war der Preis, um Ankara in der Koalition gegen die Terrorarmee "Islamischer Staat" (IS) zu halten. Auch das hilft den Kurden in Syrien nicht mehr. Ebenso wenig wie es die Bombardements von IS-Stellungen taten, aus viereinhalb Kilometer Höhe durch amerikanische Kampfjets. Kobanê war von Beginn an verloren, wie sich nun zeigt.

Die Türkei steht gleichwohl am Pranger, da mag sich die konservativ-religiöse Führung in Ankara auf die Schulter klopfen wegen der Aufnahme von einem Millionenheer an syrischen Flüchtlingen und wegen des Entschuldigungssiegs über Joe Biden und alle anderen, die noch vorhaben, die Ehre der Türkei zu beschmutzen. Die syrischen Kurden werden gerade auf dem Altar der türkischen Nationalpolitik geopfert. So einfach ist das.

Oder nicht ganz so einfach: Staatschef Erdogan und seine seit zwölf Jahren regierende Partei haben den türkischen Nationalismus modernisiert. Eine populistische, panislamische Außenpolitik ist dazugekommen. Jahrzehntelang hat sich niemand an den Namen eines türkischen Außenministers oder einer besonderen türkischen Außenpolitik erinnern können. Das ist vorbei.

Erdogans Türkei aber ist ein Opfer ihrer eigenen Listigkeit geworden: Eine Autonomie der Kurden in Syrien oder gar im eigenen Land will sie stets verhindern; eine sunnitische Führung würde sie gern in Damaskus platzieren (und ebenso in Kairo). Das Ergebnis - mitverschuldet - war der große Vormarsch der Islamisten. Den türkischen Bürgern gegenüber prahlt die Regierung mit dem gewaltigen Ansehen, das ihr Land nun angeblich in der Welt genießt; doch allein kann und will sie ihre Armee nicht nach Syrien losschicken.

Für den Chef der syrischen Kurdenpartei PYD, der in höchster Not nach Ankara kam, hatte der türkische Premier und vormalige Außenminister Ahmet Davutoglu offenbar nur einen zynisch anmutenden Ratschlag. Mit der PKK, ihrem einzigen Verbündeten, sollten die syrischen Kurden brechen. Ankara nennt die Kurdische Arbeiterpartei PKK eine Terrororganisation, führt aber Friedensgespräche mit ihr.

Vielen Kurden in der Türkei ist das zu viel unehrliche Machtpolitik. Wegen Kobanê gehen sie jetzt auf die Straßen. Für die ungelösten inneren Probleme der Türkei büßen nun die Kurden im syrischen Bürgerkrieg. (Markus Bernath, DER STANDARD, 8.10.2014)