Links gegenüber greift eine Frau einer Reisegruppe aus Asien interessiert ins Gemüsekistl. Sie schnappt sich einen roten Apfel, lächelt in Fotoapparate und Smartphones, die auf sie gerichtet sind - und legt den Apfel wieder zurück. Weiter hinten jongliert ein Kellner die Getränke auf seinem Tablett gekonnt durch die Menschenmassen im engen Gang. Rechts wird den Vorbeieilenden von zwei Marktstandlern mit einem Spieß fast ins Gesicht gefahren. Auf dem einen steckt eine schwarze Olive mit Füllung, auf dem anderen eine Falafel. Eine Frau greift zur Kostprobe, grinst - geht weiter.

Urlaubsgefühl, Gastronomie, Nahversorgung oder Multikulti: Gründe für einen Besuch am Naschmarkt.
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Der Gemüsehändler daneben steht hingegen tatsächlich vor einem Geschäftsabschluss: Ein älterer Herr lässt sich ein Potpourri zusammenstellen, während ihm ein Straßenzeitungsverkäufer näher rückt. "Schleich dich, du Kanake", brüllt der Herr. Der Naschmarkt zwischen Linker und Rechter Wienzeile brummt an diesem Nachmittag, er pulsiert. Dabei hat man noch nicht einmal den ersten Schluck vom Espresso am Stand des Gemüsehändlers Mario Berber getrunken.

Gemüsehändler Mario Berber: "Die Händler sind nur noch Dekoration."
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Mehr Umsatz mit Bier

Ein Kaffee beim Lebensmittelhändler? Die Nebenrechte machen’s möglich. Bis zu acht "Verabreichungsplätze" dürfen Händler laut Gesetz an ihrem Stand anbieten. "Damit mache ich mehr Umsatz als mit meinem Gemüse", sagt Berber, der sich neben Kaffee auf Flaschenbiere spezialisiert hat. "Hätte ich das und den Lieferservice nicht, hätte ich schon längst mit dem Gemüsehandel aufgehört. Die Touristen kaufen ja kaum etwas."

Der 40-Jährige kennt den Naschmarkt, seit er sich erinnern kann. 1969 haben die Eltern den Betrieb gegründet, seit 1999 lenkt Berber dessen Geschicke. Die Transformation des Marktes in den vergangenen Jahren hat er intensiv miterlebt. "Der Markt ist kein Nahversorger mehr. Vier Gemüsehändler sind seit 2010 verschwunden." Erst kürzlich hat auch die Fleischerei Radatz nach 15 Jahren ihre hiesige Filiale zugesperrt. Mit dem Resultat, dass es derzeit kein Schweinefleisch auf dem Naschmarkt zu kaufen gibt. Die verbliebenen türkischen Fleischer am Markt führen keines im Sortiment. "Die Gastronomiebetriebe boomen hingegen", sagt Berber. "So ein Missverhältnis gibt es auf keinem anderen Markt in Wien."

Gemüsehändler beklagen Umsatzeinbußen.
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Der Vorwurf, dass das Überhandnehmen von Gastrobetrieben den traditionellen Handel am Markt vernichtet, hat eine zweite Seite. Schließlich hauchten die Lokale dem Markt auch wieder neues Leben ein. Supermärkte hatten sich rund um das Grätzel angesiedelt und mit Angeboten viel Marktkundschaft abgezogen. Laut Marktamt standen vor dem Einzug der Gastrobetriebe viele Stände leer. Heute zählt der Naschmarkt bei Schönwetter bis zu 66.000 Besucher pro Woche - darunter natürlich tausende Touristen.

Seit einer Novelle 2006 sieht die Marktordnung vor, dass Angebot und Nachfrage das Leben auf dem Markt regeln sollen. Mit einer Einschränkung: Laut Marktgesetz darf nur ein Drittel der verbauten Fläche Gastro sein. Dieser Anteil wird laut Marktamt voll ausgenutzt - was heißt, dass einem aufgelösten Marktstand kein neuer Gastrobetrieb folgen darf. Derzeit gibt es 123 Marktstände, 40 davon sind Gastro, zwei sind für Souvenirs. Das sind die Zahlen, die man mitnehmen kann, wenn man in den Mikrokosmos Naschmarkt eintaucht. Und erst da wird es richtig interessant.

Zweierlei Markt: Gastromeile und Lebensmittelversorgung
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Gerüchte, dass die Ablösen für Stände - zwei Drittel davon gehören direkt der Stadt - vergleichsweise astronomische Summen erreichen, gibt es immer wieder. Sie werden aber nicht offiziell kommentiert. "250.000 Euro für einen normalen Grün-Stand sind aber sicher nicht zu hoch gegriffen", sagt Susanne Jerusalem, die grüne Bezirksvorsteher-Stellvertreterin im sechsten Bezirk. Derartige Ablösen würden sich mit einem kleinen Lebensmittelhandel kaum amortisieren lassen. "Wenn der Nachfolger wieder einen Grün-Stand macht, gehört er eigentlich eingewiesen."

Delikatessenhändler Mark Chulpaev: "Das Marktangebot ist überall das Gleiche."
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Jerusalem vermutet daher, dass der Naschmarkt ein "riesiges Spekulationsgebiet" ist. "Wenn jemand einen als Handel gewidmeten Stand um große Summen kauft, dann weiß dieser bereits, dass der Stand in einigen Jahren nach einer Änderung der Marktordnung zu einem Gastronomiebetrieb umgewandelt werden kann. Oder es handelt sich um Geldwäsche. Das Ganze hat einen mafiösen Geruch." Bei der Weitergabe von Ständen haben Betreiber ein Vorschlagsrecht für den Nachfolger. Nach einer Prüfung folgt das Marktamt großteils dem Vorschlag. Für die Ablösesummen interessiert sich die Stadt nicht. Das will Jerusalem nicht weiter hinnehmen.

"Wir treten für eine Änderung der Marktordnung ein. Die Stadt Wien sollte das direkte Weitergaberecht abschaffen. Dann ist nicht mehr primär, wer am meisten zahlt, sondern wer das innovativste Angebot legt."

Interessant wird, wohin sich der ehemalige Radatz-Stand weiter entwickelt. Die Brüder Dursun und Erdal Taskin, die am Naschmarkt etwa den Italiener "La Piazetta" und das Lokal "Asia Time" gleich nebenan führen, kündigten als Neubetreiber an, die Filiale als Fleischerei weiterführen zu wollen. Zweifel daran äußert ein Wiener Anwalt: So würde die Taskin Imbiss KG (Kommanditist: Dursun Taskin) einen als Zeitungskiosk angemeldeten Stand am Alser Spitz rechtswidrig seit 2007 als Kebabstand betreiben. Die Verfahren dauern an.

Ein Memorandum, das der Wiener Anwalt erarbeiten ließ und das dem STANDARD vorliegt, besagt, dass das Taskin-Lokal "La Piazzetta" gemäß Zuweisungsbescheid nur zu 31 m2 für Gastronomie gewidmet ist, der Rest für Handel. Die Betreiber sollen aber auf der gesamten Fläche von 140 m2 das Lokal führen. Marktamtssprecher Alexander Hengl geht auf diesen Vorwurf nicht ein. "Nur so viel: Wenn jemand entgegen der Zuweisung betreibt, wobei wir ja bekannter Weise 1.000 Marktstände in Wien auf Zuweisungen zu kontrollieren haben und dies auch laufend tun, werden von uns Anzeigen erhoben."

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Interessant ist auch, wie die Stadt mit dem Denkmalschutz der Gebäude am Naschmarkt verfährt: Vor einem Jahr war im Taskin-Lokal "Asia Time" ein Großbrand ausgebrochen. Im Februar 2014 wurde der denkmalgeschützte Stand abgerissen und durch eine Stahlkonstruktion ersetzt. Der Denkmalbeirat, der laut Gesetz "vor Erteilung einer Bewilligung zur Zerstörung eines unbeweglichen Denkmals" zu hören ist, wurde aber nicht eingeschaltet, wie die Vorsitzende des Beirats, Bettina Perthold-Stoitzner bestätigte. In einer Anfragebeantwortung sagte die zuständige Stadträtin Sandra Frauenberger (SP), dass das Bundesdenkmalamt einbezogen worden sei.

Gastro- und Marktstandbesitzer Yaniv Kaikov: "Die Gastronomie hat den Naschmarkt positiv verändert."
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Die Gastronomen am Naschmarkt haben Sonderrechte. Die Lokale können seit 2006 unter der Woche bis 23 Uhr geöffnet halten, bei den Standln ist um 19.30 Uhr Schluss. Eine Schanigartensaison gibt es nicht. Tische und Stühle können draußen theoretisch ganzjährig aufgestellt werden, eine Unzahl an Heizstrahlern ist abends im Herbst fleißig im Einsatz.

Größter Schanigarten

Sperren Standln zu und gehören diese zufällig dem Lokalbetreiber nebenan, wird die Outdoor-Fläche am Abend mit Tischen für die Gastro massiv erweitert. "Das ist mit 2.500 Sitzplätzen im Sommer der größte Schanigarten Wiens", sagt Anrainer Peter Jaschke von der Bürgerinitiative "Rettet den Naschmarkt". Jaschke, der Bestandsaufnahmen von Objekten durchführt, hat auf eigene Faust den Markt vermessen. Laut seiner Dokumentation ist die Drittel-Fläche, die für die Gastro reserviert ist, überschritten.

Auch Akan Keskin, Obmann des Landesgremiums für Markthändler in der Wirtschaftskammer Wien mit besten Beziehungen ins Rathaus, ehemaliger SP-Bezirksrat in Margareten und Mitbesitzer des Lokals "Orient Occident" am Naschmarkt, ist aktuell nur bedingt zufrieden. "Die Umsätze leiden", sagt Keskin - und meint Gastro und Handel. Er führt die Probleme aber auf die Sanierung des Naschmarktes zurück, die erst Ende 2015 abgeschlossen sein wird. Laut Keskin müssten Standler auf spezielle regionale Waren setzen. "Die Menschen wollen keine Supermarkt-Produkte mehr."

Gemüsehändlerin Gabriele Kuczera: "Ich werde den Touristen keine Schnittlauchbrote schmieren."
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Gemüsehändler Berber erzählt beim Espresso seine Vision vom Naschmarkt: Jeder Stand, egal ob Handel oder Lokal, soll Gastro anbieten dürfen, muss aber für 50 Prozent der Fläche ein Handelskonzept haben.

Für die Kuczeras gegenüber, seit 1974 Gemüsehändler am Naschmarkt, ist das keine Option. Gabriele und Karl führen den Betrieb in dritter Generation, auch die vierte Generation ist im Geschäft tätig. Gabriele erzählt, dass die Umsätze in den vergangenen Jahren um die Hälfte zurückgegangen sind. Nur die Belieferung von Restaurants hält sie über Wasser. Schnittlauchbrote für Touristen anbieten, wie ihnen vorgeschlagen wurde, wollen die Kuczeras jedenfalls nicht.

"Wir werden auch diese Krise überstehen", sagt Karl. "1974 haben uns die Gastarbeiter aus der Türkei und Jugoslawien gerettet. Wir haben 60 Kisten Spinat am Wochenende verkauft, das schaffen wir jetzt in einem halben Jahr nicht. Bei der nächsten Krise hat uns die Ostöffnung gerettet. Dann der Flohmarkt, dann die Gastro. Ich bin gespannt, was kommt. Der Naschmarkt wird überleben." (David Krutzler, DER STANDARD, 4.10.2014)