Gerhard Weissgrab.

Foto: Standard / Andy Urban

STANDARD: Achtsamkeit ist im Arbeitsleben angekommen. Was halten Sie davon?

Weissgrab: Ich sehe das als typisches und sich wiederholendes Phänomen, dass gewisse Dinge, aus der spirituellen Ecke kommend, plötzlich im säkularen Bereich Einfluss bekommen. Dinge, die, wenn sie im spirituellen Kontext richtig angewendet werden, wirken, und wenn man das erkannt hat, übernommen werden und den Weg des Weltlichen oder des Materiellen gehen. Und dann wandeln sie das Gesicht: Weil gerade aus dem Buddhismus kommend, hatscht jede deutsche Übersetzung ganz fürchterlich. So auch jene der Achtsamkeit.

STANDARD: Wie ist die richtige Übersetzung dann?

Weissgrab: Ich denke, was gemeint ist, ist "Sati" - ein Pali-Begriff, für den es viele Worte gibt. Achtsamkeit ist nur eines, das im Westen Platz gegriffen hat und wahrscheinlich gar nicht so ideal ist. Weil ja auch der Einbrecher achtsam sein muss, um nicht erwischt zu werden. Das hat mit Sati selbstredend nichts zu tun. Eine bessere Übersetzung wäre vielleicht "gewahr sein", aber es gibt auch die Übersetzungen "denken" und "erinnern" - nur, damit Sie eine Idee davon bekommen, wie weit dieser Begriff eigentlich ist.

STANDARD: Aktuell sind sehr viele Menschen mit Achtsam-Sein und Achtsamkeit beschäftigt. Wie ist denn Ihre Sicht auf dieses Phänomen?

Weissgrab: Es hat für mich vornehmlich damit zu tun, dass ein Leiden unter dem Sammelbegriff des Burnout die Gesellschaft voll erreicht hat und das Bedürfnis, da herauszufinden, einfach sehr groß ist. Die Werkzeuge, die Achtsamkeit bietet, tragen schon das Potenzial in sich, hilfreich zu wirken - nämlich bei diesen großen Problemen der Gesellschaft ein Angebot einer Rettung zu sein. Ich glaube aber auch: Wenn wir nicht in der Zeit leben würden, in der wir eben leben, würde sich vielleicht gar keiner um den Begrff der Achtsamkeit scheren.

STANDARD: Was halten Sie davon, dass sich zunehmend mehr Unternehmen dem Thema - Stichwort Achtsamkeitsübungen, z. B. Meditation - widmen, im Sinne einer "caring company"?

Weissgrab: Ich sehe das sehr zweischneidig: Auf der einen Seite ist das sicher gut bzw. kann nicht schaden, auf der anderen Seite aber orte ich ein gewisses Maß an Geschäftemacherei. Diese Moden gab es ja schon vorher - wenn Sie sich noch an Zen für Manager erinnern. Da könnte man auch sagen: Vielleicht ist das für den einen oder anderen ein Zugang zum wirklichen spirituellen Weg. In vielen Fällen fürchte ich aber, dass die Wirtschaft das Personal für noch mehr Wahnsinn fit machen möchte.

STANDARD: Dann würde Ihre Diagnose der Gesellschaft und insbesondere der Arbeitswelt wie lauten?

Weissgrab: Meiner Meinung nach ist der Blick auf die Realität, einfach auf die Dinge, wie sie sind, verloren gegangen. Mein erster Lehrer sagte zu mir: Wenn du den Weg des Buddha gehst, tue nichts anders als vorher - aber im Begriff von Sati. Dann wirst du wissen, was für dich und die anderen gut ist, und erst dann kannst du dein Verhalten wirklich verändern. Alles baut auf grenzenloses Wachstum - wenn man das nicht unterstellt, funktioniert die heutige Wirtschaft nicht. Wenn etwas in der Natur - was auch immer es ist - aufhört, sich zu regenerieren, oder aufhört zu sterben und sich neu zu bilden, sondern grenzenlos wächst, dann ist das eine Krebswucherung.

STANDARD: Macht Sie das als Buddhist nicht hoffnungsfroh, wenn sich doch so viele mit diesen Themen beschäftigen - wie mit Achtsamkeit?

Weissgrab: Das gehört zu den wenigen Dingen, bei denen ich relative Gelassenheit pflege (lacht). Das ist ein Trend, der kommt und geht. Und er wird keinen großen Einfluss auf den Buddhismus in Österreich haben.

STANDARD: Und auf die Gesellschaft?

Weissgrab: Da würde es mich freuen, wenn es Einfluss haben könnte. Ich bin nur nicht sicher, ob solche Trends dann auch wirklich mächtig und groß genug sind. Aber es könnte Teil eines Größeren sein, das in die richtige Richtung weist. (Aus unserem Jahresmagazin KARRIERENSTANDARDS 2014)