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Tausende Demonstranten besetzen Straßen in der Innenstadt Hongkongs.

Foto: REUTERS/Carlos Barria

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Das Antlitz von Hongkongs Regierungschef Leung Chun-ying wurde von Demonstranten mit Vampirzähnen geschmäht.

Foto: REUTERS/Tyrone Siu

Der Deutsche Stephan Ortmann arbeitet als Professor für politische Ökonomie an der City University of Hongkong und erlebt die Proteste in der asiatischen Hafenstadt vor allem als Kampf um die Identität der früheren britischen Kronkolonie. So wie andere Lehrende unterstützt Ortmann die politischen Aktivitäten seiner Studierenden. Im Gespräch mit derStandard.at schildert er seine Eindrücke.

derStandard.at: Sie haben selbst an den Demonstrationen teilgenommen. Wie reagieren die Demonstranten auf die Strategie der Behörden, die Polizei vorerst abzuziehen?

Ortmann: Ich war am Dienstag an zwei Standorten, dem Regierungsviertel Admiralty und dem Stadtbezirk Central. Am Montag war ich in Mong Kok, einem Einkaufsviertel. Generell hat sich die Situation seit dem Abzug der Polizei kaum verändert. Die Leute auf der Straße waren von Anfang an sehr friedlich, sie sitzen meist nur auf der Straße, singen Lieder, halten Transparente hoch. Die Studierenden räumen ihren Müll weg, ich habe beobachtet dass jemand ein frisches Anti-Regierungs-Graffiti weggewischt hat. Die Demonstrationen laufen 24 Stunden am Tag, viele Leute kommen kurz und gehen dann wieder nach Hause, andere kommen dafür nach. Darum kann man auch kaum einschätzen, wie viele sich wirklich daran beteiligen.

derStandard.at: Wie organisieren sich die Studierenden an Ihrer Universität?

Ortmann: An jedem Hongkonger Campus gibt es eine aktive Studierendenbewegung, die in jeweils eine politische und eine nicht-politische Organisation aufgeteilt ist. Die politische Organisation ist auf lokaler Ebene die treibende Kraft hinter den derzeitigen Protesten. In der Campus-übergreifenden "Federation of Students" werden Aktionen koordiniert, etwa der Vorlesungsboykott von vergangener Woche. Ich habe meine Vorlesung damals aufgezeichnet, damit auch die Teilnehmer an dem Boykott sie verfolgen können. Der Leiter meines Instituts hat allen Professoren angeraten, die Aktionen der Studierenden zu unterstützen.

derStandard.at: Von Studierenden abgesehen: Wer sind die Demonstranten?

Ortmann: Eingeleitet wurde die Eskalation von den Studierenden, die am Samstag und am Sonntag auf die Straße gegangen sind und denen sich Occupy Central am Sonntagabend angeschlossen hat. Occupy Central, das mehr von Seiten der Akademiker und der Professoren getragen wird, will die chinesische Führung schon lange dazu bringen, den Hongkongern ein echtes Wahlrecht zu geben. Die gewaltsame Reaktion der Behörden hat dann dazu geführt dass sich immer mehr Menschen den Protesten angeschlossen haben. Vergangene Woche haben sich maximal zehn Prozent der Studierenden aktiv an den Protesten beteiligt, seit den großen Demonstrationen vom Sonntagabend und Montag hat sich das geändert. Jetzt sind tatsächlich alle Altersgruppen und die verschiedensten Bevölkerungsgruppen dabei. Auch Oberstufenschüler von der Bewegung "Scholarism" sind aktiv.

Ortmann: Wie groß ist Ihrer Einschätzung nach der Rückhalt der Protestbewegung in der Bevölkerung?

derStandard.at: Natürlich gibt es viele Leute, die den Protesten kritisch gegenüberstehen. Andererseits hat sich eine große Gruppe an Menschen gebildet, die für ihre Rechte kämpfen wollen. Für die Hongkonger steht auch ihre Identität auf dem Spiel, weil die chinesische Regierung mehr Kontrolle über Hongkong auszuüben versucht. Für die Leute hier ist es aber sehr wichtig anders zu sein als die Menschen am Festland, das machen sie an politischen Sicherheiten, ihrem Rechtssystem und der Meinungs- und Versammlungsfreiheit fest. Die Leute sehen diesen Kern der Hongkong-Identität bedroht und somit auch die Zukunft der Stadt.

derStandard.at: Ist das Credo "Ein Land, zwei Systeme" bedroht?

Ortmann: Ich denke nicht. Hongkong ist für die chinesische Regierung ja nur deshalb von Vorteil, weil es eben diese zwei Systeme gibt. Wirtschaftlich wäre jede Änderung dieser Situation eine Katastrophe, weil alle Eigentumsverhältnisse an diesem Rechtssystem hängen. Die Frage, wie man diesen Übergang irgendwann bewerkstelligen möchte, ist bis dato nicht beantwortet worden. Das wird eher pragmatisch angegangen, indem man die Antwort immer weiter aufschiebt, bis sich die nächste Generation damit beschäftigen muss.

derStandard.at: Wie lange hält das Wirtschaftsdrehkreuz Hongkong den Blockaden und Protesten stand?

Ortmann: Die Occupy-Bewegung wollte die Proteste am Mittwoch schon zurückschrauben, einige Gruppen haben sich dem aber verweigert. Die Frage ist eher, wie lange die Protestgruppen es noch aushalten, die Beteiligung ist ja jetzt schön langsam rückläufig. Es wird derzeit viel diskutiert, wie weiter vorgegangen werden soll. Die Führungssituation ist unklar, Occupy und die Studenten hören nicht auf einander. Eine mögliche Strategie ist, die Demonstrationen ins Regierungsgebiet zu verlegen und die Straßenblockaden aufzugeben. Bis übers Wochenende zeichnen sich aber weitere Blockaden ab. Wirtschaftlich ist die Situation natürlich ein Problem, die Geschäfte an den blockierten Straßen sind geschlossen, öffentliche Busse können weite Teile der Innenstadt nicht mehr passieren, chinesische Touristen bleiben wohl bald aus.

derStandard.at: Wie groß ist das Verständnis in China für die Unzufriedenen in Hongkong?

Ortmann: Die Diskriminierung, der Chinesen in Hongkong schon allein aufgrund ihrer Sprache Mandarin ausgesetzt sind, wirkt da wie eine Barriere, was das Verständnis für die Proteste betrifft. In Peking hat man aber sicher Angst, dass die latent Unzufriedenen auf dem Festland vom Beispiel Hongkong lernen und ihre Angst verlieren könnten. Die Hongkonger wiederum fühlen sich von China und von einer massiven chinesischen Einwanderung bedroht. Da geht es weniger um einen Stadt-Land-Konflikt als um einen Reich-Arm-Konflikt. In Hongkong herrscht die höchste Ungleichheit zwischen Arm und Reich in der entwickelten Welt, exorbitante Mietpreise und rapide steigende Lebenshaltungskosten stehen dem Mythos vom Hongkong-Traum gegenüber, wonach es durch harte Arbeit jedermann schaffen kann, der Armut zu entfliehen. Dieser Traum stirbt gerade.

derStandard.at: Erwarten Sie schlussendlich doch massive Gewalt gegen die Demonstranten?

Ortmann: Das liegt völlig in der Hand der chinesischen Regierung. Die Demonstranten dürften weiterhin Abstand von jeglicher Gewaltausübung nehmen. Allerdings ist die Pekinger Regierung unberechenbar und 1989 (beim Massaker am Pekinger Platz des Himmlischen Friedens, Anm.) hat sie die Proteste auch gewaltsam aufgelöst. Die Konsequenzen massiver Gewalt heute wären aber auch für China ziemlich teuer und ich glaube, die Strategie der Regierungen in Peking und Hongkong lautet derzeit eher abwarten und Tee trinken. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 2.10.2014)