Heidenreichstein - Menschen mit "Suche Restkarte"-Papptäfelchen, das kennt man: wenn Robbie Williams in Wien vorbeischaut oder Anna Netrebko in Salzburg singt. Aber bei Literatur pur in einem, wenngleich schönen, so doch recht entlegenen Ort an Österreichs Waldviertler Rand ist es ein eher unerwarteter Anblick. Oder doch auch wieder nicht. Seit der allerersten Ausgabe von Literatur im Nebel2006, als Salman Rushdie zu Gast war, ist die Margithalle in Heidenreichstein bis auf den letzten der 600 Plätze restlos ausverkauft.

Das hat mit der geballten Prominenz der Vortragenden (dieses Jahr Jugendpsychiater Paulus Hochgatterer), Gesprächspartner (Bestsellerautor Daniel Kehlmann) und vorlesenden Theater-, Film- und Fernsehstars zu tun: Wunderbare Soli von Tobias Moretti, Elisabeth Orth und Erwin Steinhauer; hinreißende Duette von Julia Koschitz / Manuel Rubey; Herbert Föttinger / Hubsi Kramar; Nicole Beutler / August Zirner; Franziska Weisz / Johannes Zeiler; bezaubernde Terzette von Michou Friesz / Anna Kim / Thiemo Strutzenberger; herrliche Chorgesänge von Ferdinand Schmalz / Teresa Präauer / Rubey / Koschitz.

Vor allem aber hat es mit den Weltklasseschriftstellern zu tun, die einen Zweitagesausflug ins Waldviertel unternehmen. Standing Ovations am Ende des insgesamt mehr als zehnstündigen Hardcore-Lesemarathons verblüfften - und rührten dann aber auch den diesjährigen Ehrengast Ian McEwan, dessen jüngster Roman The children act bereits auf Platz vier der New York Times-Bestsellerliste rangiert.

Diogenes wird die deutsche Fassung (Kindeswohl) erst im Jänner 2015 herausbringen, in Heidenreichstein las Christiane von Poelnitz erstmals Passagen aus dem deutschen Vorabdruck, McEwan aus der englischen Originalfassung. Er fühle nicht Mitleid mit seinen Figuren, wohl aber Mitgefühl, Sympathie: "Ich versuche Situationen von moralischer Komplexität zu schaffen", sagte er dem Standard in kleinem Journalistenkreis, "aber dieser Prozess wäre abgeschwächt, würde ich den Lesern sagen, wie sie denken und fühlen sollen."

Deshalb wähle er für seine Figuren auch möglichst nichtssagende Namen: "Komponisten können ihre Musik einfach mit Opus elf Nummer drei betiteln und wecken damit keinerlei Erwartungen. Das ist perfekt. Es wäre doch wunderbar", sagte McEwan, "könnte ich meinen nächsten Roman einfach Opus 14nennen." In all seinen Figuren stecke sicherlich viel von ihm; und von allen Figuren bleibe etwas in ihm zurück: "Man gibt nie alles weg." (red, DER STANDARD, 30.9.2014)