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Geräusche, die von innen kommen, machen Tinnituspatienten das Leben zur Qual.

Foto: Ap/kropa

Dieses Leiden kann viele Register ziehen. Es manifestiert sich als beharrliches Brummen, Rauschen oder Pfeifen, in praktisch jeder erdenklichen Tonlage. Je lauter und anhaltender, desto quälender. Doch der Lärm kommt nicht von außen etwa durch Bauarbeiten oder rücksichtslose Nachbarn, er steckt im Kopf des Betroffenen selbst. Tinnitus wird oft als Heimsuchung erlebt.

Entstehung unklar

Die unangenehmen Geräusche im Ohr bereiten Medizinern noch immer Kopfzerbrechen. Ihre Entstehung ist meist unklar. Nur in wenigen Fällen lassen sich körperliche Faktoren wie zum Beispiel Verengungen von Blutgefäßen als Auslöser dingfest machen.

Wenn tatsächlich eine solche interne Schallquelle nachweisbar ist, sprechen Fachleute von einem objektiven Tinnitus. Bei der Mehrheit der Patienten dagegen bleibt die Ursache verborgen. Der behandelnde Arzt kann höchstens Vermutungen anstellen und seine Behandlung dementsprechend ausrichten. Keine gute Perspektive.

Viel zu laute Musik

In Österreich sind schätzungsweise 800.000 bis eine Million Menschen in mehr oder weniger starkem Maße von Ohrgeräuschen betroffen. Circa 200.000 von ihnen leiden unter schwerem chronischem Tinnitus, berichtet Manfred Koller.

"Das Problem nimmt immer mehr zu." Koller ist Musikprofessor und Präsident der Österreichischen Tinnitusliga. Seiner Meinung nach ist die starke Lärmbelastung in unserer Gesellschaft eine der wichtigsten Ursachen der Tinnitusepidemie. Hier müsste es mehr Prävention geben. "Junge Leute hören viel zu laute Musik. Das hat seine Auswirkungen."

Zusammenhang mit Lärm

Ein Zusammenhang zwischen hoher Lärmbelastung und Tinnitus gilt inzwischen als erwiesen. Den Ergebnissen einer aktuellen südkoreanischen Studie zufolge tragen Jugendliche, die regelmäßigem Umgebungslärm ausgesetzt sind, im Vergleich zu ihren unbeeinträchtigten Altersgenossen sogar ein mehr als sechsfach erhöhtes Tinnitusrisiko (vgl. Otology and Neurotology, Bd. 35, S. 1281). Über Kopfhörer gehörte Musik hat laut dieser Studie aber keinen Einfluss auf die Entstehung.

Auch durch psychischen Druck, wie Stress am Arbeitsplatz und/ oder Schwierigkeiten im Privatleben, werden Menschen anfälliger für Phantomgeräusche. "Viele Betroffene scheinen mit ihrem Leben nicht zurechtzukommen", sagt Manfred Koller. Die psychologische Betreuung sei deshalb eigentlich wichtiger als die medizinische. "Es müsste viel mehr Psychologen geben, die sich mit Tinnitus auskennen."

Umstrittene Wirksamkeit

Therapiekonzepte gibt es dennoch zuhauf. Das Angebot reicht von Cortisoninfusionen über Akupunktur bis hin zur Verabreichung von Ginkgoextrakten. Die Wirksamkeit solcher Methoden ist gleichwohl umstritten. Einige Tinnituspatienten fühlen sich nach der Behandlung zwar besser, zumindest vorübergehend, doch diese Linderung könnte durchaus auf einem Placeboeffekt beruhen.

Die kognitive Verhaltenstherapie gilt indes als effektivster Ansatz zur Bekämpfung der von den Ohrengeräuschen selbst verursachten Belastungen. Im Prinzip lernen die Betroffenen dabei, ihre Haltung gegenüber der Krankheit, auch wenn Tinnitus strikt genommen nur ein Symptom ist, zu ändern. Akzeptanz ist dann die wichtigste Voraussetzung für den Behandlungserfolg, wie eine neue Analyse schwedischer Wissenschafter aufzeigt (vgl. "Journal of Behavioural Medicine", Bd. 37, S. 756).

In einem ebenfalls in Schweden getesteten Verfahren wird den Tinnituspatienten kognitiv-verhaltenstherapeutische Selbsthilfe über das Internet angeboten. Mit ermutigenden ersten Ergebnissen ("Behaviour Research and Therapy", Bd. 47, S. 175).

Einen ganz anderen Ansatz haben Wissenschafter der Universität Münster verfolgt. Die Experten vermuten, dass Tinnitus infolge von Hörschäden durch fehlerhafte Tätigkeit von bestimmten Hirnzellen entsteht.

Wenn Sinneshärchen im Innenohr zum Beispiel durch massiven Lärm geschädigt sind, so die Überlegung der Forscher, leiten sie keine oder weniger Signale an die im Gehirn für deren Verarbeitung zuständigen Neuronen weiter. Letztere reagieren dann womöglich mit einer Art Hyperaktivität auf den Reizentzug. Benachbarte Zellen jedoch könnten diese Reaktion eventuell bremsen, wenn sie selbst entsprechend angeregt werden.

Maßgeschneiderte Musik

Auf Basis dieser Idee hat die Münsteraner Arbeitsgruppe von Christo Pantev eine spezielle Form der Musiktherapie entwickelt. Der hierfür verwendeten Musik wird digital ein bestimmter Frequenzbereich entzogen – genau derjenige, den der Betroffene als Tinnitus hört. Prinzipiell ist jede Musikart für dieses Verfahren geeignet. Der Patient kann seine Lieblingsstücke bearbeiten lassen und bekommt das Ergebnis ein paar Stunden täglich ohne Unterbrechung vorgespielt.

In einer Langzeitstudie mit insgesamt 23 Teilnehmern meldeten die so behandelten Personen nach sechs Monaten eine signifikante Verringerung der empfundenen Lautstärke ihrer Ohrengeräusche. Nach einem Jahr war dieser Effekt noch ausgeprägter (vgl. PNAS, Bd. 107, S. 1207).

Komplexe Störung

Noch ist unklar, über welche genauen Mechanismen die maßgeschneiderte Musik den Tinnitus beeinflusst. Findet tatsächlich eine Aktivitätsregulierung durch Nachbarzellen statt, oder wurden die beeinträchtigten Neuronen neu programmiert, und zwar auf andere Frequenzen?

In den meisten Fällen dürfte Tinnitus eine komplexe systemische Störung sein, betont Pantev in seiner Analyse. Dementsprechend sei es wahrscheinlich, dass verschiedene Regelkreise an der Entstehung der Symptome beteiligt sind. Das gezielte Kombinieren von unterschiedlichen Behandlungsstrategien erscheint deshalb sinnvoll. Die Suche geht weiter. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 26.9.2014)