Der Wohlfahrtsstaat in seiner jetzigen Form erzeugt falsche Anreize, sagt Dennis Snower. Er fordert eine hohe staatliche Förderung für Unternehmen, die Arbeitslose einstellen.

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Der Kampf gegen die hohe Arbeitslosigkeit in Europa zeigt wenig Wirkung. Was läuft falsch?

Snower: Wir sind zu wenig anpassungsfähig. Der internationale Wettbewerb hat sich verschärft, Arbeitsplätze können leichter dorthin verlagert werden, wo die Produktion am profitabelsten ist. Deshalb müssen wir unsere Sozial- und Bildungssysteme umstellen. In den Schulen sollte es viel mehr um soziale Kompetenz, Kreativität und Initiative gehen.

STANDARD: Kann sich Europa dabei noch von anderen Regionen abheben?

Snower: Natürlich passiert das heute auch schon in den Schwellenländern. Wir haben aber den Vorteil, die Entwicklung, die diese Länder jetzt durchmachen, schon lange hinter uns zu haben. Hierarchisch geprägte Produktionsweisen gibt es in Europa kaum mehr. Daher sollte es uns möglich sein, näher an den zukunftsträchtigen Technologien dran zu sein.

STANDARD: Können diese Technologien wirklich für ausreichend neue Arbeitsplätze sorgen?

Snower: Man kann sich im Vorhinein meist nicht vorstellen, welche Rolle technische Innovationen irgendwann spielen werden. Vor 100 Jahren hätte sich niemand träumen lassen, dass heute fast jeder mit einem Auto fahren kann. Und dass die Fahrzeugindustrie eine dementsprechende Stütze der Wirtschaft ist. Der Unterschied zu damals ist, dass für einen Henry Ford sehr klar war, wo seine Autofabriken stehen würden. Heutzutage schaut man sich Wachstumsbranchen wie die Biotechnologie oder die IT-Branche an und erkennt: Die Stellensicherheit von damals gibt es nicht mehr. Die Angestellten können überall sitzen. Deshalb dürfen wir nicht mehr so stark in Sektoren denken.

STANDARD: Müssen wir uns in Europa auch von der Vorstellung stabilen Wachstums verabschieden?

Snower: Ein so rasantes Wachstum wie vor 2008 wird es in nächster Zeit sicher nicht wieder geben. Damals waren die Zinsen niedrig und wir haben uns stark verschuldet. Die Finanzkrise hat uns gezeigt, dass das nicht nachhaltig war. Aber die Lektion daraus haben wir nicht gelernt. Es ist gut möglich, dass der langfristige Wachstumspfad einfach viel geringer ist, als wir uns das vorgestellt haben. In vielen Teilen der westlichen Welt sind Konsumenten überschuldet, Unternehmen sind risikoscheuer, die Staaten geben nicht mehr so viel aus, weil sie es sich nicht leisten können. Dabei wäre jetzt eigentlich die Zeit für massive Investitionen in zukunftsträchtige Infrastruktur.

STANDARD: Sind die Rezepte der Regierungen und Zentralbanken die falschen?

Snower: Ja, zum Großteil. In der Fiskalpolitik herrscht wenig Einigkeit, innerhalb Europas und auch in der Abstimmung mit den USA. Strukturreformen finden kaum statt und auch eine effektive Regulierung des Finanzmarktes ist man nicht angegangen. Übrig bleibt die Geldpolitik, die für all diese Versäumnisse geradestehen muss. Aber billiges Geld ist nicht nachhaltig. Wir werden uns noch darüber wundern, in welchem Ausmaß durch die niedrigen Zinsen in die falschen Projekte investiert wird.

STANDARD: Wenn es kein Wachstum mehr gibt, und die Arbeitslosigkeit schon jetzt so hoch ist, sollten wir die bestehende Arbeit besser aufteilen, etwa über Arbeitszeitkürzungen?

Snower: Das funktioniert nicht, es gibt kein fixes Pensum an Beschäftigung. Wenn jemand mehr arbeitet, bezieht er ein höheres Einkommen, gibt mehr aus und das wiederum erzeugt mehr Arbeit. Statt mehr Unterstützung zu geben, je länger man in der Arbeitslosigkeit feststeckt, sollte es mehr Geld für Ausbildung geben. Und es sollte Beschäftigungsgutscheine geben, die einem ermöglichen, leichter in die Arbeitswelt zurück zu kommen.

STANDARD: Wo genau setzen diese Beschäftigungsgutscheine an?

Snower: Je länger jemand arbeitslos ist, desto höher fällt die staatliche Förderung für ein Unternehmen aus, das diese Person einstellt. Nach Beschäftigungsstart wird die Subvention immer geringer und läuft irgendwann ganz aus, zum Beispiel nach einem Jahr. Im kleinen Rahmen funktioniert das vielerorts, beispielsweise in Hamburg. Dort behielten rund 75 Prozent der Menschen ihren Job auch nach dem Auslaufen des Programms. Nur auf nationaler Ebene wird es nicht umgesetzt, weil das weder den Beamten in den Arbeitsämtern noch den Politikern behagt. Denn dann könnten sie sich nicht mehr als Retter der Arbeitslosen darstellen.

STANDARD: Kann man damit wirklich neue Arbeit schaffen oder sind das im Endeffekt nur Umverteilungsmaßnahmen?

Snower: Wenn die Arbeit für die Unternehmer billig wird, dann wird sie auch mehr nachgefragt. Wichtig ist, nicht die gesamten Lohn- und Lohnnebenkosten zu übernehmen, sondern nur einen Teil. Sonst stellen Unternehmen Leute über die Programme ein, und entlassen dafür andere.

STANDARD: Würden Unternehmensförderungen wie Sie sie vorschlagen nicht auch viel mehr öffentliche Mittel verschlingen?

Snower: Sie denken zu kurzfristig. Höhere Einkommen schaffen neue Arbeit und generieren neue Steuereinnahmen. Es ist eine Investition. Und deren Rentabilität muss unabhängig von politischen Zwängen bewertet werden. Langfristig gesehen finanziert sich dieses Modell selbst.

STANDARD: Sind die heute angewendeten Umschulungen und Weiterbildungen für Arbeitslose ineffektiv?

Snower: Es geht in die richtige Richtung, Weiterbildung ist eines der Dinge, die Langzeitarbeitslose am dringendsten benötigen. Grundlegend reformieren müssen wir hingegen das Beihilfensystem. Vor einem halben Jahrhundert hatte so gut wie jeder Arbeit, der arbeiten wollte. Die Sozialsysteme wurden zur Überbrückung kurzfristiger Arbeitslosigkeit geschaffen. Heute sind die Menschen länger arbeitslos, die Unterstützung wird zum Schuldenproblem für den Staat. Deshalb müssen wir die Systeme flexibler gestalten.

STANDARD: Wie soll dieser Umbau der Sozialsysteme aussehen?

Snower: Man sollte das heutige Wohlfahrtssystem durch persönliche Sozialkonten ersetzen: Beschäftigungs-, Gesundheits-, Bildungs- und Pensionskonto. Am besten erklären lässt es sich am Beispiel des Beschäftigungskontos: Alle Beiträge, die ich bisher in die Arbeitslosenversicherung einzahle, gehen auf mein persönliches Konto. Zahle ich ein, erhöht sich mein Guthaben, beziehe ich Arbeitslosengeld, verringert es sich.

STANDARD: Was würde sich dadurch ändern?

Snower: Einzahler, die nie arbeitslos waren, werden heute am Ende eines Berufslebens enteignet. Stellen Sie sich vor, diese Enteignung umfasst in Zukunft nicht hundert Prozent, sondern nur mehr einen Teil davon, sagen wir 40 Prozent. Das wäre ein ganz neuer Anreiz zu Arbeit und Ausbildung: Je länger ich arbeitslos bin, desto geringer sind meine Ansprüche. Die Einstellung zur Arbeit würde sich ändern, das System effizienter werden. Und das macht finanzielle Mittel frei, um denjenigen, die wirklich arm dran sind, zielsicherer helfen zu können. Es muss eine Garantie geben, dass es im neuen System niemandem schlechter geht als im jetzigen.

STANDARD: Bedeutet das nicht eine Aufweichung des Versicherungsprinzips?

Snower: Nein, weil die jetzige Arbeitslosenversicherung eigentlich gar keine Versicherung ist. Wäre es so, müssten diejenigen, die besonders anfällig sind für Arbeitslosigkeit, die höchsten Versicherungsprämien zahlen. Stattdessen werden jene mit dem größten Risiko noch belohnt.

STANDARD: In Österreich fordern viele eine Steuerreform, der Faktor Arbeit soll entlastet werden. Ist das der richtige Ansatz?

Snower: Der Fokus sollte woanders liegen. Wir müssen darüber nachdenken, warum Geringverdiener so schlecht entlohnt werden. Das hängt maßgeblich von ihren Fähigkeiten ab. Es muss Anreize geben: Je niedriger das Einkommen und je länger die Arbeitslosigkeit, desto höher der Ansporn, sich neue Fähigkeiten anzueignen. Im Gegensatz dazu ist es unsinnig, alles am Anfang eines Arbeitslebens zu lernen und zu glauben, die Anforderungen würden sich nicht verändern.

STANDARD: Aber wird es nicht auch in Zukunft niedrigqualifizierte Jobs geben, die schlecht bezahlt werden und bei denen es diese Anpassungsfähigkeit gar nicht braucht? Müssten diese nicht besser entlohnt werden und auch steuerlich entlastet?

Snower: Die Welt hat sich verändert. Die Berufsbilder, die heute schlecht entlohnt werden, wird es in Zukunft nicht mehr geben. Aber die Menschheit hat sich schon oft umstellen müssen. Auf Fabriken, auf die Dienstleistungsgesellschaft, auf die Digitalisierung. Und immer hat der Großteil der Beschäftigten es geschafft, sich anzupassen.

STANDARD: Müssen wir uns also auf noch mehr unregelmäßige Arbeitsformen einstellen?

Snower: Auf jeden Fall werden Jobs nicht mehr so definierbar sein. Sogar der Automechaniker hat heute schon ganz andere Kompetenzen als früher. Er versucht mich zu beraten, er will eine Kundenbeziehung aufbauen. Anders funktioniert es auch im einfachen Gewerbe nicht mehr.

Dennis Snower (63) ist Präsident des renommierten Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Der amerikanische Ökonom ist in Wien aufgewachsen und nahm dort an einem Symposium des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung teil. (INTERVIEW: Simon Moser, DER STANDARD, 20.9.2014)