Sichtbar machen, was es gar nicht mehr gibt: Dem Projekt ging eine wochenlange Recherche voraus. Obwohl auf den Grundrissen, etwa jenem der Kaserne, nun herumspaziert werden kann, sind längst noch nicht alle Rätsel gelöst. Bestimmte Symbole in den Plänen konnten bisher nicht entschlüsselt werden.

Foto: Irene Schanda

Dort wo heute der Wohnbau steht, befanden sich einst eine Kaserne, eine Brotfabrik und später ein Umspannwerk.

Foto: Irene Schanda

Architekten und Bauträger greifen bekanntermaßen nicht sonderlich gerne zum Farbtopf. Zu spezifisch. Zu gefährlich. Zu geschmäcklerisch. Die meisten Wohnbauten sind demnach weiß verputzt, ein bisschen Grau und Anthrazit als i-Tüpfelchen ist da schon das höchste der chromatischen Gefühle.

Im Falle des Wohnbaus in der Oberen Donaustraße 15a in Wien-Leopoldstadt darf man Architekt Josef Knötzl für diese branchenangeborene Zurückhaltung jedoch nur dankbar sein. Umso besser kommt das neue, auf den Asphalt gepinselte Kunst-am-Bau-Projekt zur Geltung.

In den Innenhöfen und öffentlichen Durchgängen, die sich durch die mehr als 500 Wohnungen fassende Anlage ziehen, sind abstrakte, kräftig aufgebrachte Farbflächen zu erkennen. Immer wieder tauchen auf dem Boden zumeist rote, manchmal auch gelbe und blaue geometrische Formen auf. Da eine Drei, dort eine etwas wackelige Sieben, am Eck ein kariertes Etwas, das dem Connaisseur als Kaminsymbol ins Auge springen könnte.

Geschichte oft verborgen

Tatsächlich handelt es sich bei der flächigen Collage um Grundrisse, und zwar jener Gebäude, die in der Vergangenheit das Grundstück zwischen Donaukanal und Augarten okkupierten. RAUMgeSCHICHTEN 1723 bis 2014. Eine Gebäudearchäologie nennt sich dieses Kunstprojekt von Lena Fasching und Martina Montecuccoli, dem eine wochenlange Recherche im Wiener Landesarchiv sowie im Staats- und Kriegsarchiv vorausging. Es ist Resultat eines 2011 von der Wiener Kunstschule ausgeschriebenen Studentenwettbewerbs.

"Es wird so viel neu gebaut, und in den meisten Fällen sind wir uns nicht bewusst, welche Geschichte sich unter den Orten verbirgt", sagt Montecuccoli bei einer Führung, bei einer der seltenen Gelegenheiten in der bildenden Kunst, die es dem Betrachter erlauben, die Kunst nicht nur anzugreifen, sondern auch zu betreten. "Also haben wir beschlossen, uns in diesem Fall mit der Historie auseinanderzusetzen und einen inhaltlichen Bezug zum Grundstück herzustellen."

Kasernenstandort

Das Kramen in der Geschichte stellte sich als fruchtbare Angelegenheit heraus. Denn da, wo heute gewohnt wird, stand von 1723 bis 1863 eine Kaserne. Baumeister des Riesendings, das nun in einem roten Zeitschatten verewigt wurde, war niemand Geringerer als Jakob Prandtauer, der Erbauer des Stifts Melk. Man möchte förmlich durch die Räume schreiten, durch das Wachtmeisterzimmer ("1"), durch die Gemeinzimmer ("3"), durch die kleinen Sattel- und Monturkammern ("5"). Auch die Lage der späteren Brotfabrik (gelb) und des noch viel späteren Umspannwerks (blau), die hier einst standen, kann man betreten studieren.

Bei den Bewohnern kommt das Kunstprojekt mit gemischten Gefühlen an. "Das soll Kunst sein?", sagt eine der Bewohnerinnen. "Das sind doch nur übereinandergelegte Grundrisse von irgendwas." Dem Kunstprojekt gegenüber etwas besser gesinnt ist Petra Fritsch, ihres Zeichens Trainerin in Karenz: "Ich finde, dass der farbliche Akzent der ganzen Anlage guttut. Mir gefällt das Projekt gut. Noch schöner hätte ich es gefunden, wenn wir Mieterinnen und Mieter in den Prozess mit eingebunden worden wären."

Gegen Anonymität

Wenig später marschiert der Pensionist Gustav Hammerschmied über die Kunst. "Ich halte das für ein g'scheites Projekt, das uns bewusst macht, dass wir nicht immer nur die Ersten sind, die etwas tun. Jeder Ort hat eine Geschichte. Und hier kriegt man eine Idee davon, was sich an dieser Stelle schon alles abgespielt haben muss." Abgesehen davon, so Hammerschmied, wirken die RAUMgeSCHICHTEN der grassierenden Anonymität in der zeitgenössischen Architektur entgegen.

Die Baukosten für das Kunstwerk, das von den vier Bauträgern Neue Heimat, Österreichisches Volkswohnungswerk, ÖVW und at home getragen werden, belaufen sich auf rund 80.000 Euro. "Die Identifikation mit dem eigenen Wohnort erzeugt Heimatgefühl, Sicherheit und gelebte Nachbarschaft", sagt Tobias Wegner, Projektleiter beim ÖVW. Und Sabine Dorazin (Neue Heimat) meint: "Die Zusammenarbeit mit der Wiener Kunstschule war sehr intensiv. Das Siegerprojekt schafft es, die Transformation des ehemaligen Betriebsgebietes ins Gedächtnis der Bewohner zu rufen. Das ist eine enorme Leistung."

Rätselhafte Symbole

Martina Montecuccoli, die den Lehrgang an der Kunstschule in der Zwischenzeit absolviert hat, hat selbst noch nicht alle Fragen beantwortet, die sie mit ihrem Projekt aufgeworfen hat: "In den historischen Grundrissplänen der Kaserne kommen einige Schraffuren und Symbole vor, die wir selbst noch nicht entschlüsselt haben. Bei manchen Dingen habe ich keine Ahnung, was sie bedeuten sollen." Die Verwirrung liegt den Passanten nun zu Füßen. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, 20.9.2014)