Seit der spektakulären Aufholjagd der schottischen Separatisten bei den Umfragen verging kaum ein Tag ohne düstere Warnungen von Politikern, Geschäftsleuten und Publizisten in- und außerhalb Großbritanniens über die Folgen eines Sieges der Separatisten bei dem Referendum am Donnerstag, nicht nur für die Schotten und für das Vereinigte Königreich, sondern auch für die Zukunft der Europäischen Union. Als ein Journalist, der vier Jahrzehnte lang beruflich und familiär mit dem britischen politischen und gesellschaftlichen Leben eng verbunden gewesen ist, gehöre auch ich zu jenen Beobachtern, die die Theorie eines blühenden schottischen Staates aus sachlichen Gründen für ein gewaltiges Trugbild halten.

Das Beispiel, wie "eine Nation verrückt geworden ist" (so wörtlich die Schlagzeile des Londoner "Economist" am Samstag), beweist wieder einmal, wie der Aufschwung und die Intensität der partikularistischen und nationalistischen Bewegungen nicht immer mit rationalen Argumenten erklärt werden können. Die atemberaubende Schnelligkeit der Umkehr von Integration zum Partikularismus nach 300 Jahren in einem gemeinsamen Staat mit den Engländern wirkt für viele Europäer als ein schwer erträglicher Kulturschock.

Seit der konsequenten "Devolution", der zunehmenden Gewährung von Autonomierechten an die fünf Millionen Schotten durch die Labour-Regierung unter Tony Blair, gibt es in der Tat keine vernünftigen Gründe für einen Bruch mit London. Alle wirtschaftlichen und sozialen Analysen bestätigen, wie stark die schottische und englische Wirtschaft miteinander verflochten sind. Es gibt keine Alternative zur Übernahme des britischen Pfunds als Währung eines unabhängigen Schottlands und keine realistische Chance, dass ein solcher Staat - wie von den schottischen Nationalisten behauptet wird - in absehbarer Zeit in die EU aufgenommen werden könnte.

Der Schotte Malcolm Rifkind, ehemaliger Außen- und Verteidigungsminister in konservativen Regierungen, sprach kürzlich in einem Interview mit der "Presse"(14. 9.) offen aus: "Die Unabhängigkeit Schottlands hätte enorme Auswirkungen, auch für Europa. Welche Botschaft würden wir, das Vereinigte Königreich, das unglaublich erfolgreich und glücklich in seiner Geschichte war, an die Welt senden, wenn nun nach 300 Jahren gemeinsamer Institutionen, Demokratie und Wohlstand die Schotten sagen, wir haben dennoch so wenig gemeinsam, dass wir nicht mehr länger zusammenleben können? Wenn die Briten nicht zusammenbleiben können, wer kann es dann?"

Viel zu lange haben die großen britischen Parteien die Risiken des schottischen Referendums unterschätzt. Die Umfragen haben dann Panik in London ausgelöst. Labour, konservative und liberale Politiker werben nun gemeinsam für das Überleben dieses großen multinationalen Staates, angeführt von dem gebürtigen Schotten Gordon Brown, dem Vorgänger des politisch höchst gefährdeten konservativen Premiers David Cameron.

Selbst nach einem möglichen knappen Sieg der "Better Together"-("Besser zusammen")-Kampagne ist zu befürchten, dass die Schlacht der schottischen Separatisten den Nationalisten in Europa, zunächst in Katalonien und Flandern, einen brisanten Auftrieb verleihen wird. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 16.9.2014)