Inhalte des ballesterer Nr. 95 (Oktober 2014) – Ab 16. September im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT: FUSSBALLFANS VOR GERICHT

DER PROCESS

Ein mittelalterlicher Paragraf bedroht die organisierte Fankultur

GEFÄHRLICHE RÄUME

Kriminologin Kretschmann erklärt Polizeistrategien

TIERSCHÜTZER, AKTIVISTEN, FUSSBALLFANS

Die größten Verfahren gegen organisierte Gruppen im Überblick

Außerdem im neuen ballesterer:

STURM-TIEF

Der Grazer Erstligaußball bleibt wechselhaft

„ICH BIN KEIN ZAUBERER“

Altach-Trainer Canadi im Interview

DAS NÖRDLICHSTE DERBY DER WELT

Reportage aus der norwegischen Kleinstadt Tromsö

UNION ODER UNABHÄNGIGKEIT

Das schottische Referendum bewegt auch die Fans

PREMIERE GEGEN MONTENEGRO

Österreichs EM-Quali-Gegner im Porträt

WIEGE IN DER MINE

Wie der Fußball nach Spanien kam

EINFALLSTOR DES WESTENS

Historikerin Braun forscht zum Fußball in der DDR

NORMIERTE STIMMUNG

Deutschlands Kurven wollen ihre Fahnen selbst wählen

FANS UND FILMEMACHER

Filmprojekte aus Dortmund, Duisburg und Düsseldorf

AUSWÄRTSSEKTORCHECK

Zu Gast beim Tabellenführer

WIR RUFEN KROATIEN

Unsere kleine Farm

DR. PENNWIESER

Die Panikattacke

ZURÜCK IN DIE SIEBZIGER

Schöne Anzüge und schnelle Autos

LOST GROUND INÖNÜ

Blick über den Bosporus

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, England und der Slowakei

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Hannes Jarolim: "Bis vor ein paar Jahren war dieser Paragraf totes Recht."

Foto: apa/Pfarrhofer

Hannes Jarolim kommt mit einiger Verspätung zum Interviewtermin in die Räumlichkeiten des SPÖ-Parlamentsklubs. Nach der Sommerpause ist wieder der Arbeitsalltag eingekehrt im Hohen Haus, zudem musste eine neue Nationalratspräsidentin gewählt werden. Bald beginnen auch wieder die Sitzungen des Justizausschusses, in denen die Reform des Strafrechts diskutiert wird.

Im Prozess um die Ausschreitungen nach einem Freundschaftsspiel zwischen Rapid und dem 1. FC Nürnberg vom 7. September 2013 sind unterdessen im Landesgericht Wien zwei weitere Rapid-Fans verurteilt worden.

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ballesterer: Sie sind nicht nur Parlamentarier, sondern auch Rechtsanwalt: Wann hatten Sie das erste Mal mit dem Paragrafen des Landfriedensbruchs zu tun?

Hannes Jarolim: Bis vor ein paar Jahren war dieser Paragraf totes Recht. Heute dient er als Auffangtatbestand und für Dinge, für die er eigentlich nicht vorgesehen war. Eigentlich sollte er ja auf Zusammenrottungen angewendet werden, wie sie etwa die Jobbik in Ungarn organisiert, wo regelrecht Jagd auf Roma gemacht wird. Für Fußballfans oder Demonstrationen war er nicht gedacht. Ob es besonders findig ist, dass die Staatsanwaltschaft und die Behörden dieses Delikt jetzt ausgraben, sei dahingestellt. Tatsache ist aber, dass er für die aktuellen Fälle nicht gemacht worden ist und aus meiner Sicht auch nicht anzuwenden wäre. Da gibt es einen Sanierungsbedarf, den auch der Koalitionspartner und eigentlich alle anderen Politiker hier im Hohen Haus sehen.

Trotzdem ist dieser Straftatbestand im Sommer häufig vor Gericht verhandelt worden.

Dass es in der Zwischenzeit zu Verurteilungen gekommen ist, ist bedauerlich. Nach der zunehmenden Kritik in der Öffentlichkeit ist diese Bestimmung in der letzten Verhandlung (Anklage gegen einen Demonstranten wegen Landfriedensbruch, Anm.) nicht mehr zur Anwendung gebracht worden. Da wurde stattdessen das Delikt des Raufhandels oder der Körperverletzung angewendet, das ja auch dafür vorgesehen ist. Es hat ja niemand eine Freude, wenn irgendwo Gewalt passiert. Aber gerade bei Sportveranstaltungen, die ja in sich schon eine Konfliktsituation darstellen, muss man damit rechnen, dass es zu anderen Kommunikationsformen kommen kann.

Mit dem Landfriedensbruch kriminalisiert man jedoch Verhaltensformen, die eigentlich akzeptiert sind. Das wäre ja das Gleiche, wie wenn ich sagen würde: „Wir sind froh, dass es so viele Autos gibt und dass wir so mobil sind. Aber die Unfälle sind ein großes Problem, die müssen wir mit neuen Paragrafen angehen.“ Da würde jeder sagen, dass das ein Schwachsinn ist. Bei den Demonstrationen ist es noch einmal etwas anderes, weil wir in Österreich eine etwas merkwürdige Konfliktkultur haben. Lautstark geäußerte Minderheitenmeinungen sind nicht so sehr erwünscht, und in der Richterschaft haben wir zudem nicht unbedingt die Personen sitzen, die diesen Äußerungen aufgeschlossen gegenüberstehen. Um auf den Punkt zu kommen: Ich gehe davon aus, dass wir diese Bestimmung ändern werden.

Sie denken also an eine Reform, nicht eine Abschaffung des Tatbestandes. Wie kann sichergestellt werden, dass es solche Prozesse und Urteile dann nicht mehr geben wird?

All das, was aus sozial gewünschten Formen von Kommunikation resultiert, sollte per se ausgenommen sein. Wenn sich aus der Spannung eines Fußballmatches ein Raufhandel ergibt, ist das genau das. Da fehlt ja völlig die Absicht, dass später Gewalt ausgeübt wird, insbesondere gegen Minderheiten. Die Gewalt entsteht bei Fußballspielen spontan, die Stimmung schaukelt sich auf. Ich komme aus dem 2. Bezirk, und da hat es früher Motorrad- und Mopedklubs gegeben. Da hat man sich mit den Klubs aus dem 20. Bezirk nicht nur verbal ausgetauscht, sondern es ist auch Gewalt angewendet worden. Zwar nicht im Übermaß, aber so, wie es bei jungen Leute nicht ganz unüblich ist. Aber kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass es sich da um Landfriedensbruch handelt.

Wie soll da in Zukunft unterschieden werden?

Es gibt ja jetzt schon Bestimmungen, wo im Gesetz aufgeführt ist, worauf sie nicht anzuwenden sind. So etwas könnte man übernehmen, oder wir könnten dezidiert definieren, worauf der Paragraf anzuwenden ist: Also dort, wo es um Gewalt gegen Minderheiten geht und man Leute dafür motivieren will. Ich schließe aus, dass wir das nicht schaffen. Dazu ist auch die Bereitschaft aller anderen zu groß. Wenn man gar nichts findet, ist es immer noch besser, den Paragrafen ganz zu streichen, bevor man die Situation so lässt, wie sie jetzt ist.

Sind Sie der Mehrheiten sicher? Aus der ÖVP und FPÖ hat es nach dem Prozess gegen Josef S. ja Stimmen gegeben, die das Urteil begrüßt haben.

Da wird die Politik in den Gerichtssaal gezerrt. Es hat ja auch beim Tierschützerprozess einige Leute gegeben, die den gut gefunden haben. Das waren in erster Linie die Jäger, die gesagt haben: „Jetzt wird endlich aufgeräumt mit dem Gesindl.“ Es gibt ja auch Staatsanwälte, wo man nicht glauben möchte, dass es so etwas gibt. Leute, die mit Fingern eine Pistole nachahmen und so auf Demonstranten zeigen und zielen, zum Beispiel. (Vorfall während des Tierschützerprozesses, Anm.) Dagegen muss man etwas tun.

Wen haben die Rapid-Fans so gestört?

Das weiß ich nicht. Für mich ist vordergründig niemand erkennbar. Ich glaube, dass es in den Spitzenfunktionen der Behörden der Justiz und des Inneren ein Unbehagen gegenüber diesen Leuten gibt, und dann ist irgendjemandem eingefallen, dass man diese Bestimmung hier anwenden könnte. So nach dem Motto: „Das könnten wir ja probieren. Der Tatbestand ist relativ leicht erfüllt, das müsste man schon hinkriegen.“ Dann gibt es noch die Nachahmer, die sich über ein neues Tool freuen und es verwenden wollen. Wahrscheinlich glauben sie sogar, dass sie damit Gewalt einschränken. Eigentlich müsste man dort, wo Gewalt angewendet wird, Ursachenforschung betreiben. Also fragen, woher diese Gewalt kommt und was die Anlassfälle sind. Dann erkennt man auch, dass es bei Demonstrationen und Fußballspielen immer nur eine kleine Zahl an Leuten gibt, die Blödsinn machen wollen. Das zu trennen, wäre die Aufgabe der Justiz und der Exekutive – aber natürlich auch der Leute, die dort aktiv sind.

Hat die österreichische Justiz beziehungsweise die Richterschaft ein Klassenproblem?

Nicht Klasse im klassischen Sinn vielleicht. Aber dass sie gewisse Milieus nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, glaube ich schon. Die Richter müssten schon bei der Ausbildung mehr Soziologe und Psychologie erlernen, um sich in die Angeklagten hineinversetzen zu können. In der Richterschaft ist das unterschiedlich ausgeprägt und kommt in der Ausbildung nicht ausreichend vor.

Es gibt in den letzten Jahren eine Häufung von Prozessen wegen sogenannter Organisationsdelikte. Angefangen bei den Tierschützern über die Refugee-Aktivisten bis hin zu Josef S. und den Rapid-Fans. Diese Paragrafen geben der Polizei bei den Ermittlungen eine stärkere Position. Kann man daraus ableiten, dass es zunehmend repressiver zugeht in Österreich?

Das kann durchaus sein. Ich bin nicht sehr glücklich damit, dass beide Ministerien, die das staatliche Gewaltmonopol repräsentieren, bei einer Partei sind. Da gibt es klarerweise die Gefahr, dass sich eine Einstellung unreflektiert durch die Apparate zieht. Wenn das Innen- und das Justizministerium politisch unterschiedlich besetzt wären, gäbe es eine stärkere gegenseitige Kontrolle. Heute wird das zunehmend homogenisiert, und das eine Ministerium setzt um, was das andere gerne hätte. Wir haben gerade die Diskussion zur Nachbesetzung von staatsanwaltschaftlichen Spitzenpositionen, wo ich merkwürdige Dinge wahrnehme. Da werden Posten auf einmal nicht mehr ausgeschrieben und Personen favorisiert, die noch nie in der Staatsanwaltschaft gearbeitet haben und familiäre Beziehungen ins Innenministerium haben.

Wie wird das in der SPÖ bilanziert, dass man auf diese Ministerien keinen Zugriff mehr hat?

Es gibt niemanden, den das freut. Die Frage ist, mit welchem Druck man versucht, diese Situation wieder zu ändern. Nach der letzten Wahl ist das nicht geglückt. Man kann immer diskutieren, welches Ministerium der beiden wichtiger ist, aber diese Konstellation ist sicher unglücklich.

Welchen Einfluss hat die Polizeireform 2005 gehabt?

Die Polizeireform hat mit sich gebracht, dass die Polizeijuristen aus den Ermittlungen wegfallen. Das ist sicherlich kein Vorteil für die Beschuldigten. Es wird militanter in der Polizei, das ist keine gute Entwicklung. Es hat ja auch Tendenzen gegeben, dass man Personen aus dem Bundesheer in die Polizei holt. Das war lange Zeit ein völliges Tabu, weil da ein anderes Denken vorherrscht. Die Leute haben ganz andere Ausbildungen, erleben ganz andere Dinge in ihrer Laufbahn.

Glauben Sie, dass die Polizeiarbeit transparent genug ist?

Unter Innenminister Ernst Strasser war die Polizei grauenhaft, und von diesem Geist ist sie noch nicht ganz frei. Es hat, insbesondere in den Führungskadern, eine Militarisierung stattgefunden. Hier wäre die Justiz gefordert, damit kritisch umzugehen.

Was halten sie von einer Kennzeichnungspflicht für Polizisten?

Ich bin dafür. Auf allen Helmen sollten Nummern stehen, die sich ständig ändern, damit nur der Einsatzleiter weiß, wer die Einzelnen sind. Dann kann man im Falle einer Beschwerde den betreffenden Polizisten ausfindig machen, ohne dass sein Name schon im Vorhinein öffentlich ist.

Gibt es dafür eine Mehrheit im Parlament?

Derzeit nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich eine Mehrheit dafür bei uns im Klub habe. Aber so etwas sollte es geben.

Bleiben wir beim Parlament. Was können wir uns von der bevorstehenden Strafgesetzbuchreform erwarten? Wird sie bis 2015 ausgearbeitet sein?

Ja, damit rechne ich. Bis in den Herbst wollen wir die kritischen Bestimmungen, und dazu gehört auch der Landfriedensbruch, geklärt haben.

Was heißt das für einen womöglich Verurteilten?

Für einen bereits Verurteilten ist das ungünstig. Sollte das Verfahren während einer Reform noch laufen, ist das neue Gesetz anzuwenden. Wenn er aber rechtskräftig verurteilt ist, hilft es nichts mehr.

Und wenn die Reform vor einem Einspruch passiert?

Dann würden die Leute freigesprochen. Die aufgehobene Bestimmung wäre im Fall einer Berufung nicht mehr anzuwenden.

Sie raten den Rapid-Fans also, bei einer Verurteilung in Berufung zu gehen?

Ja, auf alle Fälle. Aber das kommt natürlich auf den Einzelfall an. Wenn jemand nur wegen Landfriedensbruch verurteilt wurde, dann sollte er berufen. Wenn da auch eine Körperverletzung dazu kommt, ist das eine andere Sache.

Sowohl beim Westbahnhofprozess 2011 als auch beim aktuellen Prozess war die Mimik und Gestik der Angeklagten auf den Videoaufnahmen ein wichtiges Indiz dafür, wie sie an dieser Menschenmenge teilgenommen haben. Ist das problematisch?

Ja. Die Kommunikationsformen der Menschen sind unermesslich und ihnen irgendeine Bedeutung beizumessen, ist extrem problematisch.

Die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass man durch die Blickrichtung mitbekommt, was passiert. Damit ist man wissentlich Teil dieser Zusammenrottung und zieht sich nicht sofort zurück.

So etwas zeigt ja die Unmöglichkeit der Bestimmungsanwendung auf. Das ist absurd. Wir kommen immer mehr in die Situation, wo sich die Leute frei beweisen müssen. Es kann nicht sein, dass sich jemand vor Gericht wegen seines Gesichtsausdrucks verteidigen muss.

Glauben Sie, dass noch dieses Jahr eine Novelle im Parlament beschlossen wird?

Ich hoffe es, weil es die einstimmige Auffassung gibt, dass Handlungsbedarf herrscht. Die ganze Strafgesetzbuchsreform wird sich heuer aber nicht mehr ausgehen, weil es noch mehrere Streitpunkte gibt. Deswegen glaube ich nicht, dass der Landfriedensbruch-Paragraf in diesem Zusammenhang reformiert wird, sondern schon früher. Wenn wir das nicht schaffen, haben wir versagt. (Interview: Stefan Kraft & Jakob Rosenberg)