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Ein Bewohner wandert durch das zerstörte Stadtzentrum von Srinagar.

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Freiwillige sammeln Medikamente für die Opfer der Flutkatastrophe.

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Tausende flüchten vor den Fluten in Indien und Pakistan.

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Leichen schwimmen wie Treibgut in den Straßen, in denen eine schmutzig-graue Brühe steht. Aber den Helfern bleibt kaum Zeit, die Toten zu bergen. Sie müssen zuerst den Lebenden helfen. Eine junge Frau watet durch die Fluten, das Wasser reicht ihr bis zur Brust, auf dem Kopf trägt sie in einem Korb ihren kleinen Sohn. Auf Dächern warten Gestrandete auf Hilfe. Andere sind seit Tagen in den oberen Etagen ihrer Häuser eingeschlossen.

Am Himmel fliegen Militärhubschrauber im Rettungseinsatz. Erst aus der Luft wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar: Wasser, so weit das Auge reicht. Nicht nur hunderte Dörfer sind in den Fluten versunken, auch Srinagar, die 1,3 Millionen Einwohner zählende Hauptstadt der indischen Region Kaschmir, steht - an einigen Stellen bis zu drei Meter - unter Wasser. Die Shikaras, die bunten Gondeln, die sonst Touristen über den Dal-See schaukeln, retten nun fast Tag und Nacht Eingeschlossene. Nicht minder dramatisch ist die Lage auf der anderen Seite der Grenze, in Pakistan.

Katastrophengebiet Kaschmir

Die zwischen Indien und Pakistan aufgeteilte Himalaya-Region Kaschmir erlebt die schlimmste Flutkatastrophe seit über einem Jahrhundert. Von einem südasiatischen "Katrina" sprechen Medien bereits in Anspielung auf den Hurrikan, der 2005 New Orleans verwüstete. Sintflutartige Monsunregenfälle haben die Region in den vergangenen zwei Wochen in ein Katastrophengebiet verwandelt. Zwei bis drei Millionen Menschen mussten ihre Häuser verlassen, über 500 starben bisher in den Fluten.

"Man muss davon ausgehen, dass die Todeszahl höher liegt", sagt Syed Zafar Mahmood, Präsident der Hilfsorganisation Zakat, zu Reportern. "Zahlreiche Dörfer wurden einfach weggespült." Viele Menschen sind noch dabei, das Ausmaß der Zerstörung zu fassen. "Srinagar ist versunken. Die Stadt liegt in Trümmern, es ist unvorstellbar", erzählt Mehrjah-Ud-Din Shah, Chef der zuständigen Katastrophenschutzbehörde. Selbst Kaschmirs Regierungschef Omar Abdullah war angeblich tagelang in einem Gebäude gefangen.

Telefonnetz zusammengebrochen

Auf beiden Seiten der Grenze sind zehntausende Soldaten und Helfer im Dauereinsatz. Noch immer sollen 200.000 bis 600.000 Menschen von jeglicher Hilfe abgeschnitten sein. Verzweifelt versuchen die Retter, zu ihnen durchzudringen. Die Telefonnetz ist zusammengebrochen. Hubschrauber werfen Notpakete ab und retten Gestrandete. Doch sie kommen kaum hinterher. "Wir haben drei Tage auf dem Dach gewartet", erzählt eine 60-jährige Pakistanerin.

Im indischen Srinagar starben 14 Kinder in einem Hospital. In Pakistan sprengten Militärexperten drei Uferdämme des Flusses Chenab, um die Wassermassen umzulenken und drei größere Städte, darunter auch die historische Stadt Multan, vor den Fluten zu retten. Die "Stadt der Heiligen" mit ihren Moscheen und Basaren, die zehn Millionen Einwohner zählt, soll inzwischen fast außer Gefahr sein.

Seuchen befürchtet

In aller Eile wurden Moscheen und Tempel zu Notcamps umfunktioniert. Doch sie können die Massen kaum fassen, Tausende drängen sich auf engstem Raum. Helfer befürchten den Ausbruch von Seuchen wie Cholera. Viele Flüchtlinge litten an Durchfall, Infektionen oder Ausschlägen, berichtete die Zeitung "Hindustan Times". Sauberes Trinkwasser sei knapp. Derweil warten am Flughafen von Srinagar 15.000 Menschen darauf, ausgeflogen zu werden. Tausende Tierkadaver müssen dringend entsorgt werden, um Seuchen zu verhindern.

Inzwischen regt sich in Indien der Zorn über die Politik und die schleppenden Hilfsmaßnahmen. "Die Menschen sind sehr wütend, frustriert und erschöpft", zitieren Medien den Polizeioffizier R. K. Khan. In Srinagar beschuldigten Einwohner das Militär, gezielt vor allem Touristen und VIPs aus dem Krisengebiet in Sicherheit geflogen zu haben. "Helikopter kamen, wir haben gewunken", sagt eine Frau. "Niemand kam, um uns zu helfen. Niemand aus unserem Viertel wurde per Helikopter gerettet."

Die indische Luftwaffe musste ihre Rettungseinsätze zurückfahren, nachdem zornige Anwohner die Hubschrauber mit Steinen beworfen hatten. Auch Helfer warfen der Landesregierung vor, die Rettungsaktionen seien miserabel koordiniert. "Die Menschen brauchen dringend Nahrung, Medizin, Kleidung und ein Dach über dem Kopf", sagte Valay Singh von Save the Children. “Die Leute stehen vor dem Nichts.”

Terrorgruppen nutzen Katastrophe

In Pakistan mischen auch islamistische Gruppen bei den Rettungsarbeiten mit. Einige Terrorgruppen unterhalten Hilfsorganisationen. So eröffnete die verbotene Jamaat-ud-Dawa über ihre Wohlfahrtsverband Notcamps und versorgt Familien dort mit Nahrung. Diese Gruppen haben oft ein sehr effizientes Netzwerk und nutzen dies traditionell bei Katastrophen, um Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen.

Das ganze Ausmaß der Zerstörung wird wohl erst sichtbar, wenn die Wassermassen zurückgehen. Doch es ist klar: Es wird Jahre dauern, bis die Region wiederaufgebaut sein wird. Hunderttausende haben alles verloren - ihr Haus und ihr ganzes Hab und Gut. Kommentatoren appellierten an die neue Regierung von Premierminister Narendra Modi, die Flut als Chance zu begreifen, den Kaschmiris die Hand zu reichen. Indien müsse den Flutopfern in Kaschmir nun die gleiche Solidarität zuteil werden lassen wie den Opern des Tsunami 2004, des Erdbebens in Gujarat von 2001 oder den Opfern der Fluten in Uttarakkand von 2012.

Das mehrheitlich muslimische Kaschmir gilt seit Jahrzehnten als Brennpunkt. Delhi hat dort zehntausende Soldaten stationiert, um Aufstände niederzuhalten. Viele Kaschmiris empfinden Indien als brutale Besatzungsmacht. Zudem liegen Indien und Pakistan im Streit um Kaschmir. Die beiden Nachbarn haben vier Kriege geführt, drei um Kaschmir.

Umweltschützer warnten derweil, dass dies nur der Vorbote weiterer Naturkatastrophen sein könnte. Der Grund sei der Klimawandel, der Indien immer schwerer treffen werde, sagte Chandra Bhusan von der in Delhi ansässigen Umweltorganisation CSE. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, derStandard.at, 15.9.2014)