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Georg Kreisler: "Seine Lieder werden wir singen."

Foto: APA/dpa/Daniel Karmann

Sein Tod kommt unerwartet. Trotz seines Alters konnte man ihn sich bis zum Schluss nicht anders vorstellen als wach, weise und spöttisch. Selbst mit neunundachtzig, als seine Hände schon ein wenig unsicher geworden waren, sodass er, der Perfektionist, nicht mehr Klavier spielen wollte, war sein anarchistischer Geist noch klar wie in der Jugend und seine Empörung frisch wie am ersten Tag.

Ja, sein Tod kommt unerwartet. Vielleicht dachten wir, wenn es ein einziges Mal eine Ausnahme geben würde, dann für ihn, der den Tod so oft beschworen, bedichtet, in Noten gesetzt und belacht hat. Große Künstler können die ältesten Begriffe, Orte oder Dinge in etwas Neues, in ihre eigenste Schöpfung verwandeln.

So wie jeder Seerosenteich nun von Monet ist, wie die Stadt Arles für immer van Gogh gehört und das Berlin der Vorkriegszeit Bertolt Brecht, hat Georg Kreisler den Tod in seine Erfindung verwandelt, in ein Produkt seiner dunklen Fantasie, und dass er nun selbst gestorben sein soll, erscheint wie ein Witz, so makaber, dass nur er ihn sich hätte ausdenken können.

Und mehr als jeder von uns sich vorstellen kann, mehr als man in ein paar Sätze oder auch eine Rede zu fassen vermag, ist mit ihm aus der Welt verschwunden. "Wer noch begreifen könnt, was da zerbricht", heißt es in einem seiner melancholischsten Lieder, "wer es beschreiben könnt, ich kann es nicht, jedes verzweifelte Wort ist zu klein. Lass mer's halt sein."

Aber wir können es nicht sein lassen, wir müssen zumindest versuchen, zu begreifen, was da zerbrochen ist. Er war nicht einfach der letzte Vertreter der sogenannten goldenen Zeit des Wiener Kabaretts - er war auch ihr größter. Er war nicht einfach ein wichtiger politischer Liedermacher, er war der kompromissloseste politische Sänger der Zeit nach dem Weltkrieg; er war vor allem nicht bloß ein großartiger Kabarettist, er war einer der bedeutendsten Dichter in der Sprache von Paul Celan, Nelly Sachs und Rose Ausländer, mit denen er mehr gemeinsam hat als mit so manchem Spaßmacher, der sich für seinen Kollegen hält.

Er wusste wie kein anderer das Ungeheuerliche des blutigen Jahrhunderts, das er aus der Nähe gesehen hatte, in Worte zu fassen und schenkte dem jüdischen Volk manche sehr lustigen und viele der traurigsten Verse seiner neueren Geschichte.

Als einer, der mit diesen Versen aufgewachsen ist, werde ich nie begreifen, wie Menschen, die Georg Kreislers Lieder nicht kennen, die Welt überhaupt verstehen können. Nehmen sie Musikkritiker ernst, halten sie Generäle für Respektspersonen, denken sie, dass es gut ist, den Chef gedeihen zu lassen, und sagen sie ohne schlechtes Gewissen mahnend "wenn jeder das täte"? Die allgegenwärtige Dummheit, das Chaos, das immer gewinnt, die grausame Lächerlichkeit, die lächerliche Grausamkeit, - was hat

man eigentlich in der Hand gegen sie, wie wappnet man sich, wenn man nicht Georg Kreislers Lieder auswendig kann? Beim besten Willen, ich kann es mir nicht vorstellen.

So geht es vielen, und es werden noch mehr sein. Man wird seine Opern spielen, seine Romane lesen, seine Lieder auswendig lernen, und wann immer die Zeiten eng und gefährlich werden, wird man seine teils surrealen und teils sehr konkreten Abgesänge auf Demokratie und Freiheit erklingen lassen.

Wie sehr man sich dann wünschen wird, er wäre noch da. Umso glücklicher dürfen wir uns schätzen, ihn gekannt zu haben und seinen hellen Witz, sein - warum das Wort vermeiden? - Genie noch in seiner Person erlebt zu haben, umso dankbarer müssen wir sein für alles, was er zurückgelassen hat.

"Ich singe Lieder in die blauwattierte Ferne, ich hänge Klagen an die pausenlose Zeit. So hebt ein jeder seine winzige Laterne, und ich lerne, nur das Lied bleibt und die Hoffnungslosigkeit." Das ist nicht ganz so traurig, wie es zunächst klingt. Denn es bleibt, sagt er da, eben nicht nur die Hoffnungslosigkeit, es bleibt auch das Lied.

Und die Laterne, die er hob, war nicht winzig, sie war ein Leuchtfeuer. "Die Welt ist schlecht und ungerecht, die Welt ist, wie sie ist, und wer die Welt für christlich hält, der ist kein guter Christ."

Auch wenn nur die Hoffnungslosigkeit bleibt, wie viel Trost liegt in der Klarheit, dem Witz und der furchtlosen Knappheit solcher Verse.

Wir werden seinesgleichen nicht mehr sehen, aber seine Lieder werden wir singen, solange wir noch Stimme und Gedächtnis haben, ja solange überhaupt noch Lieder gesungen werden in diesem Jammertal, über das er uns beigebracht hat zu lächeln. (Daniel Kehlmann, Album, DER STANDARD, 13./14.9.2014)