Heute wird in den meisten westlichen Medien die Expansionspolitik Putins als die eigentliche Ursache der Krise in der Ukraine angesehen. Neben Putins Expansionspolitik bedürfen aber auch andere relevante Ursachen einer genaueren Betrachtung. Eine der wichtigsten Fragen ist, wie haben sich die EU und vor allem die Nato nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 gegenüber den neu errichteten unabhängigen Staaten in Osteuropa verhalten? Während die Frage der Nato-Politik gegenüber den neu gegründeten Demokratien schnell zu beantworten ist, scheint die Frage der EU-Politik gegenüber diesen Staaten ein wenig schwerer zu beantworten zu sein.

Entgegen Versprechungen westlicher Staatsoberhäupter gegenüber Michail Gorbatschow wurden zwölf neue Staaten Mitglied der Nato, insbesondere jene Länder, welche direkt an Russland grenzen. Die Stationierung militärischer Einrichtungen der Nato in diesen Ländern wurde von Moskau als direkte Bedrohung der Sicherheit Russlands betrachtet. Mit anderen Worten: In den Augen mancher russischer Politiker wurde die Politik der Nato als Fortsetzung des Kalten Krieges angesehen, zumal der Warschauer Pakt nicht mehr existierte.

Die Ukraine ist heute derjenige Ort in Europa, wo die Interessen des Westens direkt auf jene Russlands prallen und somit ein ernsthafter Konflikt sichtbarer wird.

Die Unterstützung rechtsgerichteter Elemente in der Ukraine seitens des Westens, um den demokratisch gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu stürzen, ist ein Beispiel dafür, wie man Politik machen kann, ohne die Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Die Teilnahme des damaligen deutschen Außenministers, Guido Westerwelle, sowie der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Ersten Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Catherine M. Ashton, an den Demonstrationen gegen den Präsidenten Janukowitsch auf dem Maidan-Platz in Kiew, ist ein weiteres Indiz dafür, dass völkerrechtliche Prinzipien umgangen wurden.

Man möge sich vorstellen, ein russischer Außenminister würde sich gemeinsam mit Demonstranten in Wien oder Berlin an einer Protestaktion gegen den Bundespräsidenten Heinz Fischer oder Joachim Gauck beteiligen. Würde dies nicht als eine Provokation und Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates empfunden?

Es fehlen eindeutige Signale seitens der EU, auf die Verletzung der Menschenrechte der in Estland und Lettland lebenden russischen Minderheiten, welche unter anderem kein Wahlrecht haben und denen die Schulbildung in Russisch verwehrt wird, hinzuweisen.

Ein Neubeginn und Umdenken innerhalb der EU, insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Regionalpolitik in Osteuropa, vor allem in der Ukraine, scheint derzeit vonnöten zu sein. Die sogenannte "double standards"(Doppelmoral)-Politik muss durch eine solide, auf dem Völkerrecht basierende und konsistente Politik gegenüber den osteuropäischen Staaten ersetzt werden.

Der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat gerade sein neues Team vorgestellt. Der österreichische Kommissar Johannes Hahn wurde als erster Stellvertreter der neu nominierten Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik und gleichzeitig Vizepräsidentin der EU-Kommission, Federica Mogherini, bestellt. Dem Österreicher, welcher als ehemaliger Kommissar für die EU-Regionalpolitik verantwortlich war, fällt das Portfolio Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen zu - ein großes Arbeitsfeld nicht zuletzt aufgrund des Ukraine-Konflikts als einer der wichtigsten Eckpfeiler der EU-Außenpolitik der kommenden Jahre.

Die derzeitige Krise in der Ukraine ist eine Herausforderung und Chance zugleich für die neu bestellten EU-Kommissare, nämlich eine neue und glaubwürdige Strategie betreffend Regional- und Nachbarschaftspolitik zu entwickeln. Zentrales Aufgabengebiet für Johannes Hahn wird sein, Verhandlungen mit den sechs ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Ukraine und Weißrussland zu führen, um eventuelle Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik Europas ist stets mit demokratischen und menschenrechtlichen Prinzipien einhergegangen. Das ist die Stärke des Westens. Die Krise in der Ukraine ist auch eine Chance für die EU, diese Stärke voll auszunutzen. Genau hier weist auch Präsident Wladimir Putin trotz seiner expansionistischen Ambitionen das größte Defizit auf. (Homayoun Alizadeh, DER STANDARD, 12.9.2014)