Melanie Sully, britische Politologin.

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STANDARD: David Cameron und Ed Miliband sind nun doch noch nach Schottland aufgebrochen. Wird das der "No"-Kampagne helfen?

Sully: Das kommt natürlich in Schottland als komplette Verzweiflung bei den politischen Eliten in London an. Ob ihr Versuch nicht vielleicht mehr schadet als nutzt, wage ich nicht zu beurteilen. Aber klar ist, dass sie in Panik geraten sind.

STANDARD: Es hat lange nach einem relativ klaren "No" ausgesehen. Hat man das in London unterschätzt?

Sully: Man muss schon sagen, dass noch immer nur ein Institut ein Ja als Ergebnis sieht. Aber klar ist, dass es im Laufe des Jahres enger geworden ist. Es gibt 16-, 17-Jährige, die erstmals wählen. Die haben sehr aufmerksam alles verfolgt und interessieren sich wahnsinnig. Aber sie haben oft ihre Meinung geändert.

STANDARD: Was wären die Auswirkungen im Rest des Landes?

Sully: Ein Ja wäre für die gesamte Innenpolitik ein Schock. Und sie wäre auch mit anderen Problemen konfrontiert. Man denke an Nordirland. Wenn das Vereinigte Königreich hauptsächlich aus England besteht, und Wales und Nordirland nur noch Anhängsel sind, werden dort viele ebenfalls abstimmen wollen. Das wäre gefährlich, immerhin steht der Friede in Nordirland noch immer auf ziemlich brüchiger Basis.

STANDARD: London hat Schottland für den Fall eines "Ja" Zugeständnisse angeboten. Die lassen sich danach wohl kaum wieder zurücknehmen.

Sully: Das ist in der Tat eine große Ironie. Vor zwei Jahren hat London bei der Zustimmung zu einem Referendum noch darauf bestanden, dass es keine dritte Option neben Ja oder Nein geben sollte. In London ist man natürlich von einem Nein ausgegangen. Und jetzt versprechen sie genau jene Option, die sie damals ausgeschlossen haben.

STANDARD: Wie sehen Sie die Auswirkungen auf die Innenpolitik?

Sully: Ich nehme an, dass nach einem Ja die Führung von Cameron infrage gestellt würde. Er hat schon jüngst einige Abgeordnete an die Ukip verloren. Es gibt die Möglichkeit, dass nur 15 Prozent der konservativen Abgeordneten Cameron in die Wüste schicken könnten. Dem würde er vielleicht zuvorkommen. Die nächsten Wahlen sind im Mai 2015. Schottland ist zu dem Zeitpunkt sicher noch nicht unabhängig. Die Mandatsverteilung im Parlament würde wie heute ablaufen.

STANDARD: Bis zur Unabhängigkeit ...

Sully: Aber wie lange dauert so was? Man muss sich vorstellen: Die Schotten müssen parallel mit London und Brüssel verhandeln. Das kann Jahre dauern, und es kann viel passieren. Die Stimmung in Schottland könnte wieder kippen, wenn sie etwa sehen, dass die Unabhängigkeit nicht das Paradies ist, von dem sie träumen. Es kann aber sein, dass Labour 2015 eine Mehrheit bekommt, die von den schottischen Abgeordneten abhängig ist. Und dann hätte die Partei sicher wenig Lust, die Sache zu beschleunigen.

STANDARD: Ist es realistisch, dass die Abstimmung mit "Ja" ausgeht und dann die Stimmung so kippt, dass es doch keine Unabhängigkeit gibt?

Sully: Das kann passieren. Es kann sein, dass Schottland sagt, wir wollen eine schriftliche Verfassung. Darüber müsste abgestimmt werden. Was ist, wenn sie verlieren? Es gibt viele Stolpersteine. Man würde das Ergebnis akzeptieren, es wäre demokratisch. Aber es gibt viele technische Fragen, die Dinge können sich schnell wieder ändern.

STANDARD: Könnte die EU ein demokratisches Schottland wirklich auf längere Zeit draußen halten?

Sully: Die Vorstellung in Schottland ist, dass sie alle britischen Privilegien übernehmen würden: Opt-out, Rabatte und so weiter. Das wäre nicht einfach. Sie wollen den Euro nicht, sie wollen Schengen nicht. In Brüssel würden sie sagen, ein zweites England ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. In einigen Kreisen wäre das demokratische Schottland gern gesehen, vielleicht gäbe es auch etwas Schadenfreude gegenüber London. Aber die Realpolitik wäre schwierig. (Manuel Escher, DER STANDARD, 11.9.2014)