Leben in der Welt der Finsternis: Die nur wenige Millimeter langen Proturen brauchen weder Augen noch Flügel und auch nicht viel Nahrung. Um unter der Erde voranzukommen, nutzen sie ihre vorwärtsgerichteten Beinchen, die auch als Antennen dienen.

Foto: Manfred Walzl

Wien - Ihre Welt ist meist in tiefe Finsternis gehüllt. Sie krabbeln im Erdreich herum, im feuchten Humus oder auch in verrottendem Holz und in Moospolstern. Die Abwesenheit von Licht macht Augen überflüssig - sie haben längst keine mehr. Antennen wurden im Lauf der Evolution ebenfalls abgeschafft. Es sind minimalistische Geschöpfe, die ein verborgenes Leben führen. Kein Wunder also, dass die Wissenschaft sie lange übersehen hat. Entdeckt wurden sie erst 1907. Im botanischen Garten der Universität Genua.

Die Rede ist von Proturen, auch Beintastler genannt. Diese nur 0,5 bis 2,5 Millimeter langen, flügellosen Insekten kommen fast überall rund um den Globus vor, mit Ausnahme der Polarregionen. Inzwischen sind der Forschung rund 800 verschiedene Proturen-Spezies bekannt. Deren genaue Identifizierung ist äußerst schwierig. Weltweit gibt es nur wenige Experten, die diese Winzlinge anhand von körperlichen Merkmalen unterscheiden können. Dazu braucht es Geduld, ein gutes Mikroskop und sehr viel Erfahrung.

Günther Pass faszinieren diese Bodenbewohner. Der an der Universität Wien tätige Zoologe widmet sich bereits seit Jahren der Erforschung der Beintastler. Arbeit genug. Die kleinen Gliederfüßer stehen wahrscheinlich den Urformen der Insekten nahe, doch ihre genaue Herkunft ist noch umstritten. Auch Lebensweise und Herkunft der Proturen werfen noch zahlreiche offene Fragen auf. "Man weiß praktisch nichts über die ökologischen Bedürfnisse dieser Tiere", sagt Pass im Gespräch mit dem Standard. Am häufigsten scheinen sie allerdings in Waldböden vorzukommen. Dort erreichen die Mikroinsekten mitunter Populationsdichten von mehreren 10.000 Individuen pro Quadratmeter. Derart stark vertretene Bewohner dürften im Bodenökosystem eine durchaus wichtige Rolle spielen. Aber auch hier weiß noch niemand genau, welche.

Früher gingen einige Insektenkundler davon aus, dass sich Proturen räuberisch ernähren. Diese Annahme kam vermutlich angesichts der gestreckten Vorderbeine dieser Kleinkreaturen zustande. Man könnte glauben, sie seien damit ständig angriffsbereit. Inzwischen jedoch liegen mehrere Beobachtungen von an Pilzfäden saugenden Beintastlern vor. Möglicherweise stellen vor allem die Säfte von Mykorrhiza, den in Symbiose mit Bäumen an deren Wurzeln lebenden Pilzarten, die Hauptspeise der Krabbler dar.

Viel Futter scheinen sie übrigens nicht zu brauchen. Laborbeobachtungen zufolge können manche Proturen bis zu sieben Wochen ohne Nahrung überleben. Die vorwärtsgerichteten Beinchen haben eine Doppelfunktion, wie Pass erklärt. Sie ersetzen funktionell die Antennen, kommen aber auch bei der Fortbewegung zum Einsatz.

Die Artenvielfalt von Proturen kann lokal stark schwanken. Interessanterweise wurde die größte Anzahl gemeinsam vorkommender Spezies in Wien gefunden. Zur Jahrtausendwende führten der österreichische Biologe Erhard Christian und sein polnischer Kollege Andrzej Szeptycki in der Bundeshauptstadt eine Art Beintastler-Volkszählung durch, die sie in der Fachzeitschrift Pedobiologia veröffentlichten.

Arten-Weltrekord in Wien

Die Wissenschafter nahmen in insgesamt 25 unterschiedlichen Lebensräumen Bodenproben und untersuchten die darin lebenden Proturen. Als besonders ergiebiger Fundort erwies sich ein kleiner Flaumeichenwald knapp unterhalb der Kirche auf dem Leopoldsberg im 19. Bezirk. Dort konnte das Forscherduo insgesamt 23 verschiedene Proturenarten nachweisen. Der bisherige Weltrekord.

Eine aktuelle Studie von Günther Pass und seinen Kollegen zeigt dagegen neue Perspektiven für die genaue Identifizierung von Beintastlern auf. Das Team nutzte ein sogenanntes nicht destruktives DNA-Barcoding-Verfahren. Dabei wird das Erbgut der in Alkohol konservierten Mikroinsekten chemisch aus ihren Körpern extrahiert. Übrig bleiben die leeren Chitinpanzer. Sie sind unbeschädigt und lassen sich dementsprechend auch noch für die klassische Bestimmung nach äußeren Merkmalen nutzen. Für die Forscher ist das ein erheblicher Vorteil. Die Methode erlaubt ihnen den direkten Vergleich zwischen genetischen und morphologischen Unterschieden.

Die Experten behandelten 103 einzelne Proturen nach dem Extraktionsverfahren und analysierten anschließend bestimmte Bereiche in deren mitochondrialer und Zellkern-DNA. Unterschiede in diesen Erbgutsequenzen geben Auskunft über die Verwandtschaftsbeziehungen. Je größer die Abweichungen, desto größer auch die Distanz zwischen zwei Spezies. Zur Verblüffung der Wissenschafter zeigte sich, dass die Klassifizierung nach genetischen Merkmalen genau zu einem auf Basis der Morphologie erstellten Stammbaum passt. Beide Ansätze bestätigen sich gegenseitig. Detaillierte Studienergebnisse wurden im Online-Fachmagazin PLoS One veröffentlicht.

Insektenevolution

Die Untersuchungen sind Teil eines größeren Forschungsvorhabens. Pass und seine Mitstreiter wollen, mit finanzieller Unterstützung durch den österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, die Rolle der Proturen in der Evolution der Insekten präzise erörtern. Früheren Analysen zufolge dürften die Beintastler nah mit den ebenfalls blinden Doppelschwänzen (Diplura) verwandt sein. Der letzte gemeinsame Vorfahr dieser beiden Gruppen könnte bereits vor mehr als 440 Millionen Jahren über die Erde gekrabbelt sein - just in jener Epoche, als auch die ersten Landpflanzen die Kontinente eroberten.

Die Erstellung eines Stammbaums der Urinsekten wird allerdings durch den Mangel an Fossilien erschwert. Die ältesten bekannten Insekten-Überreste stammen von einem Vertreter der Springschwänze (Collembola) und werden auf ein Alter von circa 410 Millionen Jahren datiert. Von älteren Formen fehlt bislang jede Spur, während die Proturen anscheinend gar keine Fossilien hinterlassen haben. Da können nur noch die Molekulargenetik und die vergleichende Morphologie Abhilfe schaffen. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 10.9.2014)