Die Bestellung des polnischen Premiers Donald Tusk zum EU-Ratspräsidenten ist mehr als ein Prestigeerfolg für den erfolgreichsten postkommunistischen Staat im Vorfeld Russlands (vgl. meine Kolumne "Europastar Polen" 7. 7.) und mehr als eine verdiente Anerkennung der konstruktiven Modernisierungspolitik des 57-jährigen bürgerlichen Politikers, der seit sieben Jahren eine Koalitionsregierung führt. Die Wahl des ersten osteuropäischen EU-Ratspräsidenten inmitten der Ukraine-Krise ist eine doppelte symbolische und politische Botschaft nach innen und nach außen.

Dass ein Pole dieses wichtige Amt bekleidet, trägt einerseits zur Überwindung der Kluft zwischen den "alten" und "neuen" EU-Mitgliedsstaaten, zu einer überfälligen Balance bei der Verteilung der Spitzenpositionen innerhalb der Union bei. Darüber hinaus ist die Wahl dieses scharfen Kritikers der russischen Aggression in der Krim und in der Ostukraine auch eine unmissverständliche Warnung an das Putin-Regime. Alle Polen, ohne Rücksicht auf ihre politische Einstellung, hoffen, dass Tusk den polnischen Einfluss zugunsten eines härteren Vorgehens gegen Russland durchsetzt, zumal laut Umfragen 80 Prozent der Polen Angst vor einer russischen Aggression gegen ihr Land haben.

Auch die Staats- und Regierungschefs der drei baltischen Staaten - Estland, Lettland und Litauen - haben ihre Sorgen um den russischen Expansionsdrang noch vor dem Auftritt des US-Präsidenten Barack Obama in Tallinn mit ungewöhnlicher Offenheit bekundet. Die Ukraine kämpfe "einen Krieg im Namen von ganz Europa", erklärte die Präsidentin Litauens, Dalia Grybauskaité.

Das Nato-Gipfeltreffen hat freilich die Erwartungen der schärfsten Russland-Kritiker enttäuscht. Selbst die zurückhaltende Neue Zürcher Zeitung geißelt in einem Leitartikel die Augenauswischerei der unzureichenden Beschlüsse. Solange die Militärausgaben der Mitgliedsstaaten nicht erhöht werden, "bleiben die Deklarationen der Nato bloßes Papier". Die vielkritisierten USA decken drei Viertel aller Militärausgaben, während die Bündnispartner in den letzten fünf Jahren ihre Verteidigungsbudgets um 40 Milliarden Dollar gekürzt haben.

Der amerikanische Politologe Prof. Joseph S. Nye hat kürzlich bei seiner Stellungnahme für Obamas pragmatische Haltung ironisch vermerkt, Putin habe im Zuge der Ukraine-Krise "immerhin die Nato neu belebt". Obama hatte in seiner Rede in Estland tatsächlich nicht nur die amerikanische Garantie für die baltischen Staaten im Sinne des Artikels 5 des Nato-Vertrages im Falle eines Angriffs von außen in aller Form bekräftigt, sondern auch den schärfsten Ton eines US-Präsidenten gegenüber Russland - seit dem berühmten Ausbruch Ronald Reagans gegen das "Reich des Bösen" (1983) - angeschlagen.

Ob Donald Tusk in seiner neuen Funktion die europäische Politik mitprägen wird, muss allerdings dahingestellt bleiben. Die nationalistische und rechtskonservative Opposition in Polen hat gute Chancen, die Parlamentswahlen im Sommer 2015 zu gewinnen. Wie könnte dann der EU-Ratspräsident Tusk mit einem extrem europakritischen Nachfolger in Warschau, zum Beispiel mit dem deutschfeindlichen Jaroslaw Kaczynski, zusammenarbeiten? (Paul Lendvai, DER STANDARD, 9.9.2014)