Wien – Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, muss sich oft die Kritik gefallen lassen, sie würde mit ihren Studien – sei es die Schülervergleichsstudie Pisa, die Lehrerstudie Talis, das "Erwachsenen-Pisa" PIAAC oder eben auch "Education at a Glance" ("Bildung auf einen Blick") – ja ohnehin nur am marktfähigen, wirtschaftlich bestmöglich verwertbaren Erwerbstätigen interessiert sein und sachdienliche Hinweise zu dessen effizientester Produktion geben.

Liest man die neue Indikatorensammlung "Education at a Glance" von 2014, dann fällt aber auf, dass ein Aspekt durch die ganze Studie hindurch eine zentrale Rolle spielt: Es ist die soziale Dimension von Bildung, Ausbildung und Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit.

So ordnet OECD-Generalsekretär Angel Gurría im Vorwort die Studie ein in den geopolitischen Zusammenhang einer Wirtschaftskrise, die er "die schlimmste Wirtschaftskrise, die wir je erlebt haben" nennt. "Langsam" würde sie überwunden, ungeachtet bestehender Risiken, die damit verbunden seien.

Kluft zwischen Reichsten und Ärmsten wächst

"Darüber hinaus wird deutlich, dass wirtschaftliches Wachstum alleine nicht zu sozialem Fortschritt führt – vor allem, wenn nicht alle an den Vorteilen des Wachstums teilhaben", schreibt Gurría. Mehr als 46 Millionen Menschen seien in den OECD-Staaten arbeitslos, viele weitere Millionen "von relativer Armut betroffen". Und: "In vielen Ländern wächst die Kluft zwischen den Reichsten und den Ärmsten", warnt Gurría und verweist auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit und den oft sehr beschränkten Zugang zu Sozialleistungen. Aber: "Die Welt sucht nach Wegen zu einem wirtschaftlichen Wachstum, das allen zugutekommt."

Die OECD wolle ihren Anteil dazu beitragen durch die Entwicklung von "Daten und Werkzeugen, damit politische Entscheidungsträger neue Strategien und Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels entwickeln können".

Dann dekliniert Gurría, in den 1990er-Jahren zuerst Außenminister, später bis 2000 Finanzminister Mexikos, an einigen Indikatoren durch, warum sozialer Fortschritt, der alle mitnimmt, so wichtig ist. Er konstatiert eine "Vertiefung der sozioökonomischen Kluft", denn das Ausbildungs- und das Kompetenzniveau wirkten sich in immer stärkerem Maße auf die Lebenschancen der einzelnen Menschen aus. Das zeige sich etwa daran, dass zwar vier von fünf Akademikern (80 Prozent) Arbeit hätten, aber nicht einmal zwei von drei Erwachsenen (60 Prozent) mit einer Ausbildung unterhalb des Sekundarbereichs.

Österreich gehört zu jenen Ländern, wo die Differenz zwischen den beiden Gruppen sogar bei 30 und mehr Prozentpunkten liegt.

Die Krise trifft aber auch die höheren Bildungsabschlüsse: So ist die Arbeitslosigkeit unter Akademikern in den OECD-Staaten von 3,3 Prozent im Jahr 2008 auf fünf Prozent 2012 gestiegen, bei den Hochschulabsolventen jedoch waren es 7,4 Prozent (2008: 4,6 Prozent). Im Vergleich dazu kletterte der Arbeitslosenanteil bei den 25- bis 34-Jährigen ohne einen Abschluss im Sekundarbereich II im selben Zeitraum von 13,6 Prozent 2008 auf 19,8 Prozent im Jahr 2012 – und in vielen Ländern noch weit darüber.

Mangel an Kompetenz erhöht Risiko, arbeitslos zu werden

Die Daten bestätigten also, schreibt Gurría, "dass schlecht ausgebildete junge Erwachsene am stärksten von der Wirtschaftskrise betroffen sind". Seine Conclusio: "Mangelnde Kompetenzen steigern die Risiken der Erwerbslosigkeit."

Und natürlich lässt sich auch aus den Einkommen einiges ablesen. Sorgen bereitet der OECD denn auch die "größer werdende Kluft zwischen gut und schlecht ausgebildeten Menschen", abzulesen an deren Einkommensunterschieden. Der OECD-Generalsekretär sieht die These von der "Aushöhlung der Mitte" bestätigt, weil sich die Einkommen von Erwachsenen mit einem mittleren Bildungsabschluss – relativ gesehen – eher dem Einkommen von Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss angenähert haben, und nicht in die andere Richtung.

Setzt man nämlich das Durchschnittseinkommen der 25- bis 64-Jährigen mit einem mittleren Bildungsabschluss auf Sekundarstufe II auf einem Index gleich 100, dann lag das Einkommen von Menschen mit einem niedrigeren Bildungsstand im Jahr 2000 noch bei 80 und fiel bis 2012 auf 76. Das durchschnittliche Einkommen mit Uni-Abschluss stieg dagegen von 151 im Jahr 2000 auf 159 im Jahr 2012 an. Die relative Einkommenslücke zwischen mittel und hoch Gebildeten hat also doppelt so stark zugenommen wie jene zwischen Erwachsenen mit einem mittleren und solchen mit einem niedrigen Bildungsabschluss.

Bildungsstand entscheidet über Armut oder Wohlstand

Angel Gurría schreibt dazu: "Der Bildungsstand entscheidet letztendlich darüber, ob man in Armut oder in relativem Wohlstand lebt, und die Verteilung der Kompetenzen innerhalb einer Gesellschaft – d. h. ob sie ausgewogen verteilt ist oder nicht – manifestiert sich im Grad der Einkommensungleichheit."

Dazu kommt, dass im Windschatten eines niedrigen Bildungsniveaus einige andere Lebensrisiken dazukommen, die ebenfalls "gesamtgesellschaftliche Auswirkungen" haben, heißt es in Gurrías Editorial.

Beispiel Gesundheit: Zwischen dem Anteil von hoch Gebildeten und niedrig Gebildeten, die ihren Gesundheitszustand als gut beschreiben, klafft eine Lücke von 23 Prozentpunkten.

Aber auch die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, anderen vertrauen zu können oder aber als Einzelner politischen Einfluss ausüben zu können, hängt eng mit dem Bildungsniveau zusammen. Besser Gebildete trauen sich mehr (zu).

Gesellschaft als Ganzes bedroht

Die drohenden Konsequenzen beschreibt OECD-Generalsekretär Gurría so: "Somit riskieren Gesellschaften mit einem hohen Anteil von Menschen mit niedrigen Kompetenzen eine Verschlechterung des sozialen Zusammenhalts und des allgemeinem Wohlergehens." Die langfristigen Kosten für die Gesellschaft könnten "bedrohliche Ausmaße annehmen", denn: "Die größer werdende soziale Kluft zwischen gut und schlecht ausgebildeten Menschen – und die Gefahr, dass Letztere von den gesamtgesellschaftlichen Vorteilen der weiteren Bildungsexpansion ausgeschlossen werden – bedroht die Gesellschaft als Ganzes."

Es reiche daher nicht, das durchschnittliche Niveau des "Humankapitals anzuheben", sondern die Analyse der Daten zeige laut Gurría, "dass – wenn Menschen aller Kompetenzniveaus von einem besseren Zugang zu Bildung profitieren – dies auch dem wirtschaftlichen Wachstum und der sozialen Integration nützt".

Es habe sich klar gezeigt, dass Länder mit einem geringen Anteil von Menschen mit niedrigen Kompetenzen und einem hohen Anteil von Menschen mit hohen Kompetenzniveaus im Hinblick auf wirtschaftliche Leistung (BIP pro Kopf) und Einkommensverteilung (Gini-Koeffizient) besser abschneiden als Länder, die ein ähnlich hohes durchschnittliches Kompetenzniveau haben, aber größere Unterschiede bei den Kompetenzniveaus innerhalb der Bevölkerung.

Bildung "unverzichtbar für die Lösung des Problems"

Bildung sei also "unverzichtbar für die Lösung des Problems" der sozialen Ungleichheit, erklärt Angel Gurría. Umso wichtiger sei, dass der erreichte Bildungsstand auch zu sozialer Mobilität führen müsse: "Die größte Bedrohung für ein Wachstum, das allen zugutekommt, liegt vielleicht eher in der Gefahr, dass die soziale Mobilität zum Erliegen kommt."

Es gibt Zahlen, die das andeuten: 68 Prozent der Kinder von Akademikern werden selbst auch Akademiker, aber nur 24 Prozent derer, die Eltern ohne Sekundarabschluss haben, schaffen einen Uni-Abschluss. Und dieses Muster ist auch bei den Jüngeren zwischen 24 und 35 noch gleich.

Das führt die OECD zu folgendem Schluss: "Die Vorteile der Bildungsexpansion erreichten zwar die Mittelschicht, aber nicht die weniger begünstigten Familien. Relativ gesehen wurden die Kinder aus Familien mit einem niedrigen Bildungsstand von den möglichen Vorteilen ausgeschlossen, die die Bildungsexpansion dem Großteil der Bevölkerung brachte. Und selbst wenn ihnen der Zugang zu Bildung offenstand, führte das Zusammenspiel von sozioökonomisch ungünstigem Hintergrund und der geringeren Qualität der Ausbildung, die diese Schüler überproportional häufig erfahren müssen, zu Bildungsergebnissen, die ihrem sozialen Aufstieg nicht förderlich waren."

Der Trend scheint da generell abwärts zu zeigen: Denn die Kurve der Aufwärtsmobilität fällt von 42 Prozent der 55- bis 64-Jährigen, die noch einen höheren Bildungsstand als ihre Eltern erlangt haben, auf 43 Prozent bei den 45- bis 55-Jährigen und dann weiter auf 38 Prozent in der Gruppe zwischen 35 und 44, um schließlich bei nur noch knapp einem Drittel der 25- bis 34-Jährigen zu landen, deren Bildungsstand über dem ihrer Eltern liegt.

Ohne soziale Mobilität Gesellschaften weniger offen

Dafür geht es bei der "Abwärtsmobilität" aufwärts: Neun Prozent zwischen 55 und 64 Jahren haben nicht den Bildungsstand ihrer Eltern erreicht, 10 Prozent der 45- bis 55-Jährigen, zwölf Prozent zwischen 35 und 44, und schließlich fällt in der Gruppe der jüngsten in der Analyse (25 bis 34) jeder sechste unter das Bildungsniveau seiner Eltern.

Was heißt das? „Die Daten legen die Vermutung nahe, dass die Bildungsexpansion noch nicht zu einer stärker sozial integrierten Gesellschaft geführt hat und dass hier dringender Handlungsbedarf besteht“, schreibt Gurría und fügt eine deutliche Warnung hinzu: „Wenn die soziale Mobilität nachlässt, werden Gesellschaften weniger offen für alle.“ (Lisa Nimmervoll, derStandard.at, 9.9.2014)