Henry Kissinger, der mittlerweile über 90-jährige US-Außenminister unter Richard Nixon, ist sicher kein "Putin-Versteher". Trotzdem schrieb und sagte er in amerikanischen Medien: "Die Dämonisierung Putins ist keine Politik, sondern nur ein Alibi für ihre Abwesenheit."

Die Wortkombination "Putin-Versteher" hat sich in deutschsprachigen Zeitungen als Negativbegriff fest etabliert. Wobei es nicht um das sprachliche Verständnis geht, sondern um den Vorwurf, tatsächliche oder auch nur vermutliche Handlungen des russischen Präsidenten durch "Verstehen" oder "Begreifen" gutzuheißen - ja sogar, für ihn einzutreten.

Christoph Bangel hat in einem Kommentar für Die Zeit online argumentiert, dass der Einsatz dieses vereinfachenden Begriffs "diskurs-feindlich" sei und Versuche diskriminiere, in offener Debatte die russischen Motive für das Vorgehen auf der Krim (Annexion) oder in der Ostukraine (Unterstützung der Rebellen) zu erklären. Armin Laschet, einer der Stellvertreter von Angela Merkel in der CDU, nannte das einen "Anti-Putin-Populismus", während man gleichzeitig und laufend "rote Teppiche für Saudis, Kataris und Chinesen ausrollt".

Inflationärer Umgang

Der beinahe schon inflationäre Umgang mit dem "Putin-Verständnis" erinnert an die Regierungszeit von Margaret Thatcher, die Gegner des von ihr vom Zaun gebrochenen Falkland-Kriegs "wets" - also "Weichlinge" - nannte. Um dieses Schimpfwort später auf alle ihre politischen Gegner und Kritiker auszudehnen.

Im CNN-Gespräch zitiert Kissinger sogar den Dissidenten und Gulag-Beschreiber Alexander Solschenizyn. Dieser habe vor vielen Jahren die Ukraine als "historisches Erbe Russlands" bezeichnet. Natürlich sei Putins Vorgehen auf der Krim eine Verletzung des Völkerrechts, aber die Ukraine sei erst seit 23 Jahren unabhängig. Viele Jahrhunderte sei sie von anderen beherrscht worden. Das müsse man wissen.

Kissinger sagte nicht "verstehen", aber er meinte dasselbe. Oder um es mit Wilhelm Dilthey, dem berühmten deutschen Geisteswissenschafter an der Wende zum 20. Jahrhundert, zu formulieren: "Das Verstehen öffnet Welten."

Polarisierung

Die Polemiken gegen das "Verstehen" Putins haben gleichzeitig zu einer Polarisierung geführt. Die Plakatierung von Forderungen nach "scharfen Reaktionen" auf die russische Ukraine-Politik wird vor allem in Internet-Foren als "Kriegshetze" interpretiert. Sanktionen sind zweifellos scharfe Reaktionen, aber kein Vorspiel zum Krieg. Den könnte ohnehin nur die Nato, nicht aber die EU führen.

Historisches Unverständnis, sprachliche Zuspitzungen und ideologische Wortgefechte haben eine lange Tradition. Sie sollten heute seltener vorkommen, weil wir ja angeblich in einer Bildungswelle schwimmen.

Wer im Westen tatsächlich Aufforderungen zur Gewalt gegen Russland und in Putins Medienreich diktierte Aggressionen gegen Europa und die USA publiziert, sollte sich bewusst werden, worauf das hinausläuft - nicht nur auf einen Krieg der Worte, sondern auf einen Europa-Krieg, der alles bisherige Leid noch übertreffen würde. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 8.9.2014)