"Latente Viren der Aggression": Oksana Sabuschko.

Foto: Kirchengast

STANDARD: 1989 warfen die mittel- und südosteuropäischen Länder des sogenannten Ostblocks die sowjetische Vorherrschaft ab und entschieden sich für Europa. Wie sehen Sie in diesem Kontext den Ukraine-Konflikt?

Sabuschko: Es ist eine Fallstudie. Die Verbrechen wiederholen sich, wenn sie toleriert werden. Hoffen wir, dass es der endgültige Schlusspunkt des Zweiten Weltkriegs wird.

STANDARD: Liegt eine Ursache des Konflikts darin, dass beide, Russland und die Ukraine, mit ihrer Geschichte nicht im Reinen sind?

Sabuschko: Es geht nicht um die Ukraine und Russland. Es geht um ganz Europa, um die gesamte Zivilisation. Vor 25 Jahren glaubte man, diese Seite der Geschichte sei umgeschlagen, das Kapitel des totalitären Horrors für immer beendet. Wir waren glücklich wie Kinder: Alles wird gut. Inzwischen haben wir alle, als Gattung Mensch, dieses dritte totalitäre Monster in Russland gefüttert und großgezogen.

STANDARD: Sie meinen Wladimir Putins Machtsystem.

Sabuschko: Es ist eine Synthese von Stalin und Hitler der schlimmsten Art. Der (russische Inlandsgeheimdienst, Anm.) FSB steht in der Tradition von NKWD und KGB, deren Verbrechen niemals verfolgt oder verurteilt wurden, weder in Russland noch in der EU. Erst jüngst haben Polen und die baltischen Staaten vorgeschlagen, dass die Verbrechen der Nazis und des Stalinismus nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden sollten. Das ist zu spät, das hätte vor 25 Jahren geschehen sollen.

STANDARD: In der Revolution von 1989 spielten viele Literaten eine führende Rolle. Als Tagespolitiker waren sie dann aber meist nicht sonderlich erfolgreich, wie etwa das Beispiel Václav Havel zeigt.

Sabuschko: Es ist ein Widerspruch. Schriftsteller und Politiker sprechen unterschiedliche Sprachen. Politiker sind wie Verkäufer, als solche wenden sie diese Verkaufstechniken an: Kaufe mich, wähle mich. Dagegen glauben wir Literaten - und sonst hätte es ja keinen Sinn -, dass Schreiben nicht nur Ausdruck unserer selbst und dessen ist, was andere fühlen, aber nicht artikulieren können. Wir sind Seismografen, wir spüren, was in der Luft liegt, fünfzehn Minuten vorher, sozusagen.

STANDARD: In Russland scheint eine Mehrheit zu glauben, was ihr vorgespielt wird.

Sabuschko: Sie müssen es glauben, denn sonst wäre es zu ängstigend. Es ist unvorstellbar, mit dem vollen Verständnis der tatsächlichen Realität zu leben. Das ist psychologischer Selbstschutz. Und der Machtapparat arbeitet sehr geschickt mit dieser Projektion der inneren Ängste der Menschen.

STANDARD: Auch in Europa glauben viele der Kreml-Erzählung.

Sabuschko: Ja, ich weiß. Und auch viele Menschen in den noch nicht von den Kämpfen betroffenen Gebieten der Ukraine. Psychologisch sehr verständlich: Die Leute wollen sich ihr komfortables Leben bewahren - bis zu dem Moment, wenn ihre eigene Haustür eingetreten wird und der Mann mit der Kalaschnikow davorsteht.

STANDARD: Diese Bereitschaft zum Selbstbetrug ist wohl aus der tiefverwurzelten Sehnsucht nach Sicherheit genährt, die mit dem ebenso urmenschlichen Wunsch nach Freiheit kollidiert. 1989 überwog Letzterer, heute scheint, auch im Westen, Erstere wieder stärker.

Sabuschko: Für Russland, wo im Jahr 2000 die KGB-Leute an die Macht kamen, fand der Autor Dmitri Bykow die Formel: Die Freiheit ist der Preis der Sicherheit. Dass der Geheimdienst wieder an die Macht kommt, gefällt uns vielleicht nicht sehr, aber es ist der Preis, den wir für unsere Sicherheit bezahlen. Das war das Programm der damaligen sogenannten Intelligenzija. Ein sozialer Vertrag, der zugleich das Todesurteil für wie auch immer organisierte freie Intellektuelle bedeutete. Das System Putin fraß die Gesellschaft wie Termiten von innen auf.

STANDARD: Ist zumindest längerfristig eine Wende vorstellbar?

Sabuschko: Das russische Patchwork-Imperium begann vor 25 Jahren zu kollabieren, nach 500 Jahren des Anschwellens. Diesen Prozess des Zusammenbruchs halte ich für unumkehrbar. Keine Gesellschaft, keine Ideologie kann das Reich auf Dauer zusammenhalten. Abgesehen davon gibt es in jeder Gesellschaft, bis hinein in die Familien, latente Viren der Aggression. Jeder Einzelne von uns hat seine schwachen Stellen, seine sprichwörtlichen Leichen im Keller. Soziales Management, also Politik, bedeutet, diese Viren schlafend zu halten und so ein normales Leben zu ermöglichen. Was aber jene Leute tun, und womit sie unvermeidlich beim Krieg landen: Sie wecken diese Viren und leiten die Aggressionen in die gewünschte Richtung. Hitler tat es, Stalin tat es. Putin tut es jetzt. (DER STANDARD, 6.9.2014)