"Israel hat das Recht auf Notwehr, aber das Notwehrrecht muss angemessen sein im Verhältnis zur Schwere des Angriffs", sagt Bundespräsident Heinz Fischer.



Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Sie sagten kürzlich, man müsse die Sicherheitsbedenken Russlands einbeziehen. Sollte jedoch Russland in der Ostukraine einmarschieren, dann müsse man Verschiedenes neu überlegen. Betrachten Sie das als Einmarsch, wenn ganz offensichtlich russisches Militär, wenn auch verdeckt, in der Ostukraine kämpft?

Fischer: Für mich ist immer das erste Postulat, wenn sich dunkle Wolken bilden, zu sagen: Priorität hat der Versuch, friedliche Lösungen, Verhandlungslösungen zu finden. Wenn es um Sanktionen geht, muss man sich der Problematik von Sanktionen als zweischneidiges Schwert auch bewusst sein. Tatsache ist, dass der Versuch, zwischen dem Überfall auf Polen 1939 und der jetzigen Situation an der russisch-ukrainischen Grenze eine Parallele herzustellen, unangebracht ist und in die Irre führt. Aber es scheint eine beträchtliche Zahl von russischen Soldaten und russischen Staatsbürgern in militärischer Uniform ohne Hoheitszeichen auf ukrainischem Gebiet zu geben, und das ist unakzeptabel. Andererseits gibt es jetzt, da wir gerade sprechen, offenbar Bemühungen in Richtung einer Verhandlungslösung.

STANDARD: Was bedeutet das für Österreich?

Fischer: Daher hat Österreich auch in den Gremien der EU eine verantwortungsvolle und der Situation angemessene Haltung eingenommen und der Herr Bundeskanzler hat ja erklärt, welchen Maßnahmen er zustimmen könnte und Österreich zustimmen könnte, auch wenn wir vor einigen Wochen oder Monaten noch gewarnt haben und auch heute warnen, mit Sanktionen vorsichtig umzugehen. Der allerletzte Stand der Dinge ist, dass es von beiden Seiten Vorschläge für einen Waffenstillstand zwischen den Separatisten und der ukrainischen Regierung gibt. Ich wünsche dem Erfolg.

STANDARD: Was in der Krim geschehen ist, war Völkerrechtsbruch. War es deshalb klug, Präsident Putin nach Österreich einzula-den?

Fischer: Also, ich halte die Entscheidung, die getroffen wurde, auf der Basis der damals vorliegenden Fakten für absolut richtig.

STANDARD: Sollte er jetzt noch einmal eingeladen werden?

Fischer: Jetzt gibt's keinen Anlass. Außerdem müsste die nächste Einladung von russischer Seite kommen.

STANDARD: Putin hat zunächst geleugnet, dass russische Soldaten sich auf der Krim aufgehalten haben, dann hat er es zugegeben. Jetzt wird immer noch geleugnet, dass sich russische Soldaten in der Ostukraine aufhalten. Wie würden Sie so ein Verhalten einschätzen?

Fischer: Es ist misstrauensbildend, aber wenn Sie auf die Vergangenheit zurückblicken, ein russischer Gesprächspartner würde ebenfalls als misstrauensbildend bezeichnen, wie sehr sich die heutige Landkarte der Verteilung militärischer Kräfte in Europa bzw. der Nato-Zugehörigkeit von dem unterscheidet, was sich Vertreter Moskaus in Gesprächen mit Vertretern des Westens zu jener Zeit erhofft haben, als die Wiedervereinigung Deutschlands auf der Tagesordnung gestanden ist. Natürlich hat jedes demokratische Land das Recht, seine Sicherheitspolitik selbst zu gestalten. Aber diese Entwicklung hat auf russischer Seite Nervosität und Unsicherheit ausgelöst. Aber, wie gesagt, das, was jetzt geschieht, nämlich zu sagen, die russischen Soldaten sind nur Urlauber, die beim Griff in den Gewehrschrank das Jagdgewehr mit dem Maschinengewehr verwechselt haben, ist auch nicht sehr vertrauensbildend.

STANDARD: Haben Sie auf der anderen Seite den Eindruck, dass in puncto Sanktionen alles durchdacht worden ist? Also auch aufseiten der EU?

Fischer: Man hat die Sanktionen - wie ich weiß - nicht aus dem Ärmel geschüttelt. Und ein Land wie Österreich will dazu beitragen, dass Europa in dieser heiklen Sache mit einer Stimme spricht.

STANDARD: Sie sagten, Österreich müsse vielleicht sein Verhältnis zu Russland überdenken. Was ist da konkret gemeint?

Fischer: Das heißt, dass wir vielleicht manche Projekte, an denen gearbeitet wurde, nicht vorrangig bearbeiten.

STANDARD: Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat gesagt, Putin hat Europa die Partnerschaft aufgekündigt. Würden Sie so weit gehen, oder haben Sie noch eine Resthoffnung?

Fischer: Ich habe auf jeden Fall eine Resthoffnung. Wir haben die lebensgefährliche Kuba-Krise überwunden, wir haben den Bau der Berliner Mauer überwunden oder jedenfalls nicht die Nerven weggeschmissen. Wir werden auch diese Krise überwinden. Zwischendurch ist es vielleicht auch einmal notwendig zu sagen: Bitte, liebe Freunde in Kiew, auch ihr müsst gewisse Hausaufgaben machen, selbst wenn bei euch dort Wahlkampf ist. Wir haben die Pflicht, diese Krise aus der Sicht beider Seiten zu analysieren.

STANDARD: Sie haben das harte Vorgehen Israels im Gaza-Krieg als unverhältnismäßig bezeichnet und sind dafür unter anderem vom Expräsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, scharf gerügt worden.

Fischer: Die Wahrheit kann man nicht rügen. Dafür haben andere wie zum Beispiel der Publizist Ari Rath mir ausdrücklich zugestimmt. Ich habe gemeint, dass Israel natürlich das Recht hat, sich gegen Raketenangriffe zu verteidigen, aber dass es für die Verteidigung, auch für das legitime Notwehrrecht, Grenzen gibt. Das Notwehrrecht muss angemessen sein und muss verhältnismäßig sein im Verhältnis zur Schwere des Angriffs. Ich habe mir auch die Zahlen angesehen, und die Gesamtopferzahlen einschließlich der Zivilisten waren auf palästinensischer Seite ungefähr 2100, aufseiten der Israelis 71. Und auf die Frage "Ja, was wäre denn verhältnismäßig?" kann ich nur sagen: Verhältnismäßig wäre, wenn es weder tote Israelis noch tote Palästinenser gibt. Von diesem Ziel sind die beiden Seiten eben sehr unterschiedlich weit entfernt.

STANDARD: Sie haben in Ihrer Rede ja auch betont, dass man jeder Form von Antisemitismus entgegentreten muss. Aber Sie haben auch infrage gestellt, dass jede Kritik sofort als Antisemitismus ausgelegt wird. Warum ist es so schwer, Israelkritik zu üben, ohne in dieses Eck gestellt zu werden?

Fischer: Das kann ich nicht beantworten, weil ich mich derart frei von Antisemitismus fühle, sodass Sie die Frage an andere richten müssen. Ich fühle mich auch nicht ins Eck gestellt und wiederhole: die Wahrheit ist zumutbar.

STANDARD: Wenn ein Freund Israels wie Sie Kritik übt und sagt, dass sind Überreaktionen ...

Fischer: ... dann wird bestritten, dass das Überreaktionen sind. Es wird gesagt: Die Hamas versteckt ja absichtlich Waffen in Häusern. Das dürfte zutreffen. Die Uno sagt aber, es wurden Krankenhäuser beschossen, in denen keine Waffen waren, und die Zahlen sprechen eine allzu eindeutige Sprache. Und das mindeste, was man tun muss, ist über über die Ge- fahr der 'Notwehrüberschreitung' nachzudenken und zu diskutieren. Aber gewissermaßen ein Kritikverbot zu verhängen geht nicht - jedenfalls nicht in Österreich.

STANDARD: Wie ist Ihr Eindruck: Kapseln sich die Israelis oder die jetzige israelische Regierung immer mehr ein?

Fischer: Meine Gesprächspartner aus Israel oder auch aus anderen Ländern sagen mir, es sei eine gewisse Rechtsentwicklung in Israel festzustellen. Und eine Stärkung jener Kräfte, die die Möglichkeit einer friedlichen Zwei-Staaten-Existenz von Israelis und Palästinensern bestreiten oder nur zu Bedingungen zulassen würden, die wiederum von der anderen Seite nicht akzeptiert werden.

Ich aber denke mir: einen Friedensvertrag, der von den Amerikanern gestützt wird, von Präsident Mahmud Abbas, also der PLO gestützt wird, von Europa gestützt wird, daher auch von Jordanien und Ägypten gestützt wird, kann die Hamas nicht ignorieren oder aufhalten. Warum arbeiten wir nicht an dieser Chance? Der alttestamentarische Grundsatz Auge um Auge ist überholt und gefällt mir nicht, aber vielleicht manchmal unvermeidbar. Aber auf der Ba- sis ein Auge gegen 100 Augen wird ein Friedensprozess kaum gelingen. (Alexandra Föderl-Schmid, Hans Rauscher, DER STANDARD, 6.9.2014)