"1989 hat Michail Gorbatschow gewonnen."

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STANDARD: Ungarn begann am 2. Mai 1989 damit, die Befestigungen an der Grenze zu Österreich abzubauen. Danach flüchteten 50.000 Menschen aus der DDR. Haben Sie nie daran gedacht, das Land zu verlassen?

Meckel: Nein. Ich wollte immer bleiben und etwas verändern. Damals leitete ich bei Magdeburg eine ökumenische Begegnungs- und Bildungsstätte. Im Juli 1989 war ich in Budapest, und als ich danach mit dem Auto in die DDR zurückfuhr, da schauten die Grenzer ganz irritiert - nach dem Motto: Da ist mal einer, der zurückkommt, also eigentlich in die falsche Richtung fährt.

STANDARD: Erinnern Sie sich an die Nachricht vom Paneuropa-Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze?

Meckel: Die Ausreisewelle über Ungarn war in diesem Sommer ein immens wichtiges Moment der Destabilisierung der DDR. Für uns als Opposition in der DDR aber waren zuvor schon der Runde Tisch in Polen und der Sieg der Solidarnosc bei der Wahl am 4. Juni zentral. Daraus ging Tadeusz Mazowiecki als erster nicht kommunistischer Ministerpräsident im Ostblock hervor. Ein Paukenschlag war das! Wenn wir im November den 25. Jahrestag des Mauerfalls feiern, muss das in diesem mitteleuropäischen Kontext geschehen.

STANDARD: Am 7. Oktober 1989 waren Sie Mitbegründer der Ost-SPD. Haben Sie damals schon an Wiedervereinigung gedacht?

Meckel: Nein, da wären wir im Wolkenkuckucksheim gesessen. Das war damals weder im Westen noch im Osten Thema. Wir wollten zunächst die Demokratisierung der DDR und sagten: Die Mauer muss natürlich weg, doch darum kümmern wir uns später.

STANDARD: Ein halbes Jahr später, nach der ersten und einzigen freien DDR-Volkskammerwahl (18. März 1990), wurden sie letzter Außenminister und verhandelten dann schon die Wiedervereinigung.

Meckel: In der Zwischenzeit hatte sich die Lage rasend schnell verändert, und unsere Situation war recht ungewöhnlich: Die Regierung, der ich angehörte, hatte den klaren Willen, Verhandlungen zur deutschen Einheit zu führen und sich damit selbst überflüssig zu machen. Außenpolitisch war mein wichtigstes Ziel, dauerhaft Sicherheit und Frieden in Europa zu schaffen, also auch die Sowjetunion weiter in Europa zu verankern und nicht über ihre Schwäche zu triumphieren. Aber ich habe dem damaligen Außenminister Eduard Schewardnadse auch ganz klar gesagt: Wir sind nicht mehr der kleine Bruder. Wenn ihr die Einheit verhindern wollt, werdet ihr verlieren.

STANDARD: 25 Jahre später kann in der Ukraine von Frieden und Sicherheit keine Rede sein. Wurden nach dem Fall der Berliner Mauer und dem anschließenden Vereinigungsprozess die Interessen Moskaus zu wenig berücksichtigt?

Meckel: Nein - auch wenn es von russischer Seite immer wieder so behauptet wird. Das große Problem ist, dass Russland bis heute seine Nachbarn nicht als souveräne Staaten anerkennt. Wladimir Putin behauptet ja, die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei der Zerfall der Sowjetunion. Das ist für ihn schlimmer als die Diktatur der Nazis oder Stalins mit ihren Abermillionen Toten. Es ist sein imperiales Denken, das den Frieden in Europa gefährdet.

STANDARD: Russland fühlt sich bis heute bei der Nato-Osterweiterung über den Tisch gezogen und beruft sich auf Zusagen - auch der Deutschen - dass die Nato im Falle der deutschen Wiedervereinigung nicht nach Osten erweitert werde. Gab es diese?

Meckel: In den Verhandlungen gab es solche Zusagen nicht, das war im Westen auch noch gar nicht im Blick. Die Nato wurde ja nicht erweitert, weil das Bündnis selbst das so wollte, sondern weil die neuen jungen Oststaaten darauf drängten. Ich bin überzeugt davon, dass die Nato-Erweiterung auch stabilisierend gewirkt hat, das sieht man im Vergleich zum Balkan. Dadurch haben die neuen Demokratien ihre Sicherheit nicht mehr allein organisiert, sondern im integrierten Zusammenhang. Man stelle sich vor, Polen hätte die ganze Zeit eine eigene nationale Sicherheitsstrategie verfolgen müssen. Das hätte zu Aufrüstung und Verwerfungen geführt.

STANDARD: Sie sehen den Konflikt heute und die Ereignisse von 1989 in keinem Zusammenhang?

Meckel: Doch - aber nicht so, wie es Russland heute sieht. Wer hat 1989 gewonnen? Michail Gorbatschow, indem er der Wiedervereinigung und der Souveränität Deutschlands zustimmte und dadurch Russland die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen ermöglichte. Er wird heute in Russland nicht geschätzt, weil man glaubt, er habe Russland geschwächt, dabei hat er dem Land genützt. Offenheit, gegenseitige Anerkennung und Kooperation stärken ein Land und stabilisieren es. Heute hingegen herrscht in Russland nationales und imperiales Gehabe. Putin hat die Botschaft von 1989 nicht verstanden. (Birgit Baumann, DER STANDARD, 6.9.2014)