Auch vor der Kamera: Xavier Dolan in "Tom à la ferme".

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Wien - Ein junger Mann hetzt, rennt, stolpert durch ein Maisfeld. Es ist Herbst, die trockenen Blätter haben ein fahles Gelbbraun. In den verwischten Sequenzen, vor allem in Großaufnahme, scheint der Gejagte mit seinen blondierten Haaren an diesem Schauplatz beinahe zu verschwinden: ein mit Bedacht inszeniertes Mimikry - bis auf einen Moment gefährlicher Stille ein Zweikampf folgt, bei dem sich die Kontrahenten ineinander verkeilt auf dem aufgeweichten Boden wälzen.

Die Szene ist dynamisch gefilmt und montiert, sie erinnert an klassische Vorbilder - nicht zuletzt an Alfred Hitchcocks North by Northwest. Aber die sorgfältige Farbabstimmung verweist auch darauf, dass hier noch in anderer Hinsicht jemand mit großem optischem Gestaltungswillen am Werk ist. Schließlich fungiert Xavier Dolan, inzwischen 25-jähriger frankokanadischer Schauspieler, Autor und Regisseur, darüber hinaus auch bei seinem vierten Kinofilm als Kostümbildner, Cutter und Produzent. Produktionsdesignerin Anne Pritchard war schon 2012 beim Vorgänger Laurence Anyways mit dabei.

Diesmal spielt Dolan Tom, der allein in die Provinz reist. In der Stadt ist er in der Werbebranche erfolgreich, auf den abgelegenen Hof von Agathe (Lise Roy) kommt er, um an der Beerdigung ihres Sohnes Guillaume teilzunehmen. Dass die beiden jungen Männer ein Paar waren, das weiß Agathe nicht. Und Guillaumes älterer Bruder Francis (Pierre Yves Cardinal) macht Tom schnell unmissverständlich klar, dass sie es auch nie erfahren soll. Eine Anweisung, der sich Tom keineswegs zu fügen gedenkt. Ein Widerstand, der Francis irritiert. Ein Konflikt, der sofort auch körperlich ausgetragen wird und der noch einige überraschende Wendungen nach sich ziehen wird.

Hochproduktiver Regisseur

Mit Tom à la ferme, der nun mit dem deutschen Synchrontitel Sag nicht, wer du bist in die heimischen Kinos kommt, hat Dolan ein weiteres Mal das Register - und das Genre - gewechselt: Laurence Anyways war noch ein schwelgerisch angelegtes, über zweieinhalbstündiges Melodram, das von einer in den späten Achtzigerjahren beginnenden Identitätsfindung handelte - und von dem Versuch, eine Beziehung auch unter veränderten Voraussetzungen weiterzuführen.

Mit Tom à la ferme legte er dann im Vorjahr einen kompakt angelegten und sehr zügig vorangetriebenen Thriller vor. Diesen kann man durchaus in jene Traditionslinie einreihen, der beispielsweise eben Hitchcock oder Claude Chabrols Das Biest muss sterben angehören. (Heuer wurde der hochproduktive Dolan bereits für sein nächstes Werk Mommy in Cannes ausgezeichnet.)

Abgesehen von der Erzählung - ein Fremder, der seine wahren Absichten verbirgt, muss sich in einer Umgebung behaupten, wo man ihm feindlich gesinnt ist - und deren klassischer Bauart hat das nicht zuletzt mit der Originalmusik zu tun. Der Franzose Gabriel Yared, den man unter anderem für seine langjährige Zusammenarbeit mit Anthony Minghella kennt (Der englische Patient, Cold Mountain u. a.), hat sie komponiert: Ein mal elegischer, mal energetischer Orchesterscore, der dem Film noch einmal Volumen gegeben habe, sagte Dolan nach der Weltpremiere in Venedig vor der Presse.

Dabei basiert Tom à la ferme auf einem Bühnenstück: Dolan hatte 2011 eine Aufführung gesehen, bei der die beeindruckend zurückgenommen agierende Lise Roy ebenfalls schon die Agathe verkörperte. Das Drehbuch, das aus ursprünglich zehn Szenen an die hundert macht, hat Dolan in Zusammenarbeit mit dem Autor des Dramas, Michel-Marc Bouchard, erarbeitet und die Vorlage völlig schlüssig in ein anderes Medium transponiert. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 6.9.2014)