Mit 15 demonstrierte Pavel Kolár gegen die KP-Führung in Prag, heute analysiert er die Geschichte seines Landes als Historiker.

Foto: Schubert

Die Wahrheit siegt. So jedenfalls steht es im Präsidentenwappen, das seit fast einem Jahrhundert über der Prager Burg weht. Die Wahrheiten der Nazi-Besatzer und der Kommunisten hatten den Satz längst diskreditiert, ehe er im Herbst 1989 für viele eine neue Bedeutung bekam: Ende September erlebten die Prager, wie tausende DDR-Flüchtlinge aus der westdeutschen Botschaft in die Bundesrepublik ausreisen durften.

Am 17. November brachte dann eine Studentendemo die Samtene Revolution ins Rollen. Nur wenige Wochen später war die kommunistische Diktatur der Tschechoslowakei Geschichte, auf der Prager Burg residierte als neues Staatsoberhaupt der Schriftsteller und Dissident Václav Havel.

Die Behörden hatten die Demonstration des 17. November genehmigt - als Kundgebung zum Gedenken an tschechische Studentenvertreter, die genau 50 Jahre zuvor von den Nazi-Besatzern hingerichtet worden waren. "Es war aber klar, dass sich die Demo gegen die KP-Führung richten würde", erinnert sich der Historiker Pavel Kolár, der als 15-Jähriger mitmarschiert ist. "Am 9. November war die Berliner Mauer gefallen. Alle konnten spüren, dass die Floskeln des Machterhalts ausgedient hatten."

"Erziehungs- und Fürsorgediktatur"

Heute ist Kolár 40 und Professor für Geschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Auf Heimatbesuch in Prag zieht es ihn immer in die wenigen Kneipen, in denen noch die Wirtshauskultur der Vorkriegszeit lebt. "Die Prager Kneipe war stets ein Erinnerungsort, der über die Geschichtszäsuren hinweg weiter bestand - auch in der kommunistischen Ära", erklärt der Historiker im Standard-Gespräch. "Erst die Neunzigerjahre brachten einen Bruch in der Ästhetik." Kolár sieht in der Alltagskultur aber auch Kontinuitäten: "Jede Herrschaft muss auf einem Legitimitätsglauben gründen, der auch von der öffentlichen Sprache geformt wird." Ein Prinzip, das für die "Erziehungs- und Fürsorgediktatur" der Kommunisten ebenso gelte wie für die Sprachangebote des neoliberal geprägten Diskurses der Nachwendezeit, als Václav Klaus die "Marktwirtschaft ohne Attribute" propagierte.

Ähnlich sieht das der 42-jährige Schriftsteller Jaroslav Rudis, der mit dem Roman Die Stille in Prag ein Sittenbild seiner Generation skizziert: Seine Helden sind allesamt Kinder der Siebziger, denen 1989 plötzlich die Welt offensteht. "Ich selbst habe das wahrgenommen wie ein großartiges Rockkonzert", erinnert sich Rudis. "Aber jedes Konzert geht einmal zu Ende, und man wird wieder nüchtern. Das war die Zeit, als wir dachten, Kapitalismus und Freiheit seien dasselbe."

"An Position in der Welt arbeiten"

Die Teilung der Tschechoslowakei 1993 gilt als Werk der damaligen Regierungschefs Václav Klaus und Vladimír Meciar. Dass sie ohne Referendum vollzogen wurde, wurde vielfach kritisiert. Immerhin atmete Europa auf, als sie friedlich über die Bühne ging, während im ehemaligen Jugoslawien längst die Waffen sprachen.

Tschechien trat 1999 der Nato bei. In der Slowakei hatte die als nationalistisch geltende Politik Meciars den Aufnahmeprozess gebremst, das Land zog erst 2004 nach. Im selben Jahr wurden beide Staaten Mitglieder der Europäischen Union.

Heute sind Tschechien und die Slowakei, wie die meisten Länder Europas, von starken regionalen Unterschieden geprägt. Die Hauptstädte Prag und Bratislava sind boomende Metropolen mit hohem Kaufkraftstandard, ländliche Regionen leiden häufig an Strukturschwäche und hoher Arbeitslosigkeit.

Während in der Slowakei längst mit dem Euro bezahlt wird, gilt in Tschechien immer noch die Krone. Dass Tschechien in der EU zuletzt eher eine Außenseiterrolle eingenommen hat, ärgert den neuen Außenminister Lubomír Zaorálek: "Wir müssen wieder an unserer Position in der Welt arbeiten", meint Zaorálek im Standard-Gespräch. "Nach 25 Jahren wissen wir, dass das nicht von alleine geht." (Gerald Schubert aus Prag, DER STANDARD, 6.9.2014)