Lange war danach gesucht worden, nun wurden Archäologen von der Universität Frankfurt fündig: Die Forscher entdeckten in Gernsheim im Hessischen Ried ein Römerkastell, in dem zwischen 70/80 und 110/120 unserer Zeitrechnung eine Truppeneinheit mit etwa 500 Soldaten (eine Kohorte) stationiert war. Nachgewiesen wurden in den vergangenen Wochen zwei für entsprechende Kastelle typische Spitzgräben, die Pfostenlöcher eines hölzernen Turms der Umwehrung sowie weitere Befunde aus der Zeit nach der Auflassung des Kastells.

Im Bild: Grabungsmitarbeiter tiefen einen Bereich der Grabungsfläche ab. Die Grabungsfläche liegt auf zwei noch freien Grundstücken mitten in einem Wohngebiet.

Foto: Goethe-Universität Frankfurt/M

Die freigelegten Funde sind ungewöhnlich zahlreich, denn die römische Truppe legte bei ihrem Abzug das Kastell nieder und verfüllte die Gräben. Dabei wurde vor allem im inneren Spitzgraben viel Abfall entsorgt – "ein Glücksfall für uns", so Hans-Markus von Kaenel vom Institut für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt. "Wir haben Kiste um Kiste mit Scherben von Fein-, Grob- und Transportkeramik gefüllt. Ihre Bestimmung wird es erlauben, das Ende des Kastells zeitlich genauer einzugrenzen als bislang möglich".

Im Bild: Einer der beiden entdeckten Spitzgräben im Profil. Solche Spitzgräben dienten als Annäherungshindernisse und waren charakteristische Bestandteile römischer Kastelle. Der Gernsheimer Spitzgraben wurde nach der Auflassung des Kastells von den Bewohnern des römischen Dorfes als Abfallgrube benutzt.

Foto: Goethe-Universität Frankfurt/M

Über das römische Gernsheim war bisher wenig bekannt, obwohl hier seit dem 19. Jahrhundert immer wieder römische Funde zutage treten. "Sicher schien aufgrund der Funde bisher nur, dass hier vom 1. bis 3. Jahrhundert eine bedeutende dorfartige Siedlung, ein 'vicus', gelegen haben muss, vergleichbar etwa mit ähnlichen Dörfern, die bereits in Groß-Gerau, Dieburg oder Ladenburg nachgewiesen werden konnten", erläutert Grabungsleiter Thomas Maurer, der seit Jahren von Frankfurt aus nach Südhessen auf Spurensuche geht und seine Ergebnisse in einer großen Publikation über das nördliche Hessische Ried in der römischen Kaiserzeit veröffentlich hat.

Im Bild: Von der Ecke eines steinernen Gebäudes haben sich nur wenige Steine aus der unteren Lage des Fundaments erhalten. Das obertägige Mauerwerk wurde in nachrömischer Zeit abgebrochen, um die Steine an anderer Stelle wiederverwenden zu können.

Foto: Goethe-Universität Frankfurt/M

"Angenommen wurde", so Maurer weiter, "dass diese Siedlung aus einem Kastell hervorgegangen sein müsse, war es doch üblich, dass die Angehörigen der Soldaten vor dem Kastell in einer dorfartigen Siedlung lebten." "Diese Grabungskampagne ist ein echter Volltreffer", freut sich von Kaenel, "die Ergebnisse stellen einen Meilenstein in der Rekonstruktion der Geschichte des Hessischen Ried in der römischen Zeit dar." Seit bald 20 Jahren kümmert sich der Archäologe zusammen mit seinen Mitarbeitern und Studierenden im Rahmen von Surveys, Ausgrabungen, Materialaufarbeitungen und Auswertungen um diesen Raum; die Ergebnisse sind in über 50 Beiträgen publiziert worden.

Im Bild: In der Kante der Grabungsfläche lässt sich erkennen, dass die Reste des Fundaments nur ca. 30 cm unter der heutigen Geländeoberfläche liegen.

Foto: Goethe-Universität Frankfurt/M

Die Römer errichteten das Kastell in Gernsheim, um in den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung den rechtsrheinischen Raum großflächig in Besitz zu nehmen und die Verkehrsinfrastruktur vom und zum Zentrum Mainz-Mogontiacum auszubauen. Für die große Bedeutung von Gernsheim am Rhein in römischer Zeit spricht seine verkehrsgünstige Lage, hier zweigte eine Straße an den Mainlimes von der Fernstraße Mainz – Ladenburg – Augsburg ab. Auch die Existenz eines Rheinhafens wird vermutet, was durch diese Grabung allerdings nicht bestätigt werden konnte.

Im Bild: Ziegelfragment mit Stempel der 22. Legion mit dem Beinamen "Primigenia Pia Fidelis". Diese römische Eliteeinheit lag seit dem späten 1. Jahrhundert auf dem Kästrich in Mainz (Mogontiacum) und bildete das strategische Rückgrat der römischen Grenzverteidigung in der Provinz Obergermanien. Ziegel dieser Legion (nicht alle Einheiten betrieben Ziegeleien) wurden in zahlreichen Militärlagern verbaut.

Foto: Goethe-Universität Frankfurt/M

Am 4. August dieses Jahres startete auf einem der wenigen noch unbebauten Grundstücke der Region, ein Doppelgrundstück an der Nibelungenstraße 10-12, die diesjährige Lehrgrabung des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität. "Nach meiner Kartierung der lokalisierbaren Gernsheimer Fundstellen befinden wir uns ganz am westlichen Rand der Fundkonzentration, unmittelbar am Rand der Niederterrasse, denn der nicht weit entfernte Winkelbach verläuft bereits in der Rheinniederung", erklärt Grabungsleiter Maurer. Auf fast allen benachbarten Grundstücken wurden in den 1970er und 80er Jahren vereinzelt römische Funde notiert. "Der Platz erschien daher als lohnenswertes Grabungsziel, was sich voll bestätigt hat."

Im Bild: Großer bronzener Pferdegeschirranhänger (Breite 12 Zentimeter, Höhe 8 Zentimeter). Solche Anhänger, häufiger in Form eines Blattes, gehörten zum Schmuck der Reitpferde römischer Kavalleristen. Der Fund ist vielleicht als Indiz zu werten, dass im Gernsheimer Kastell eine teilweise berittene Kohorte (cohors equitata) oder sogar eine reine Reitertruppe (ala) stationiert gewesen sein könnten.

(red, derStandard.at, 07.09.2014)

Foto: Goethe-Universität Frankfurt/M