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Zivilisten auf der Flucht vor der Gewalt von Boko Haram in Bama. Die Flüchtlinge suchen Schutz in einer Schule in Maiduguri. Tausende Menschen in Nigeria haben bereits ihre Heimatdörfer verlassen.

Foto: AP Photo/Jossy Ola

Musa spricht nicht gerne über seine Heimat, ein Dorf im nordnigerianischen Bundesstaat Borno. Und erst recht nicht mit seinem tatsächlichen Namen. "Boko Haram", sagt er knapp und schüttelt den Kopf. Obwohl er schon vor vielen Monaten seine Familie in die Hauptstadt Abuja geholt hat, ist die Angst noch immer groß. "Ich möchte nicht, dass sie mich hier finden."

Der Mann mit dem grauen Bart sitzt auf einer fleckigen Matratze, die das kleine Zimmer, das er sich mit seiner Frau und den kleinsten Kindern teilt, fast ausfüllt. An den Wänden stapelt sich Kochgeschirr. In den Koffern liegen Kleider - das ganze Hab und Gut. Dabei, sagt er, habe seine Familie in Borno Landwirtschaft betrieben. Nicht im großen Stil, aber es habe zum Überleben gereicht. Jetzt muss er in Abuja auf die Unterstützung von Freunden hoffen, die ihm regelmäßig ein paar Naira zustecken.

Flucht vor der Gewalt

Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres haben 400.000 Menschen ihre Dörfer in den am meisten von der Gewalt überzogenen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa verlassen, so die jüngsten Schätzungen der staatlichen Nothilfeagentur Nema. Weitere könnten nun folgen, vor allem aus der Region Gwoza. Die Stadt und die umliegenden Dörfer hatte Boko Haram in den vergangenen Wochen Schritt für Schritt erobert, eine Elite-Polizeischule besetzt, Augenzeugenberichten zufolge den Hauptimam hingerichtet und staatliche Gebäude zerstört. Boko Haram hat dort ein islamisches Kalifat ausgerufen.

Dabei pumpt Nigeria 20 Prozent des Budgets in den Verteidigungshaushalt. Doch die Proteste werden lauter, dass bei den Soldaten nichts ankommt. Prüfbare Belege gibt es nicht. Es gilt als wahrscheinlich, dass viel Geld abgezweigt wird und verschwindet. Aus Angst um ihre Männer demonstrierten kürzlich Frauen von Soldaten in Maiduguri, die verhindern wollten, dass diese in den Terrorkrieg geschickt werden. Vergangene Woche flohen 480 Soldaten ins Nachbarland Kamerun. Armee-Sprecher Chris Olukolade nannte das einen strategischen Zug. Unter der Hand hieß es jedoch, dass den Soldaten die Munition ausgegangen sei.

In der Bevölkerung ist der Ruf der Armee ramponiert. Mehrfach hatte Amnesty International (AI) den Streitkräften Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Binnenflüchtling Musa bestätigt das aus eigener Erfahrung. "Wenn die Soldaten kommen, schießen sie sofort und stellen nicht erst Nachforschungen an", klagt er. Auch das ist ein Grund, weshalb er nicht zurück möchte.

Radikalisierte Überlebende

Die brutale Vorgehensweise des Militärs führte bereits 2009 zu einer Radikalisierung der Terrorgruppe. Damals wurde deren Gründer Mohammed Yussuf und weitere Führungsmitglieder auf offener Straße erschossen, statt dass sie verhaftet und ihnen der Prozess gemacht worden wäre. "Wir haben den Wandel von Da'wa zum Jihad gesehen", sagt Idayat Hassan, die das Zentrum für Entwicklung und Demokratie (CDD) in Abuja leitet. Denn in den ersten Jahren sei Boko Haram vor allem daran interessiert gewesen, ihre eigenen Gedanken und Einstellungen zu propagieren. Erst nachdem die Sicherheitskräfte versucht hatten, die Gruppe militärisch zu zerschlagen, radikalisierten sich die Überlebenden.

Daraus gelernt hat die Armee offenbar nicht. Selbst wenn das Militär präsent ist, vermittelt es keine Sicherheit und kein Vertrauen, sagt Hassan. Kardinal John Onaiyekan, Erzbischof von Abuja und großer Befürworter des interreligiösen Dialogs, befürchtet sogar, dass Boko Haram dadurch sogar neue Anhänger rekrutieren kann: "Die Regierung verliert weiter an Glaubwürdigkeit." Daher gilt es als unwahrscheinlich, dass der Terror bald beendet wird. Denn das ist nur möglich, so Hassan, wenn es Regierung und Armee gelingt "die Herzen und den Verstand der Menschen in Nordnigeria zu gewinnen". (Katrin Gänsler aus Abuja, DER STANDARD, 5.9.2014)