Hat Wladimir Putin einen Plan, und wenn ja, welchen? Frage eins sollte sich inzwischen erübrigt haben. Für die Antwort auf Frage zwei empfiehlt sich, dem Thema angepasst, die Wortschöpfung des österreichischen Verteidigungsministers Gerald Klug: Der Plan wird situationselastisch angepasst.

Nachdem die prorussischen Rebellen in der Ostukraine militärisch in die Defensive geraten waren, verstärkte Moskau seine Hilfe. Russische Soldaten gingen über die Grenze "auf Urlaub" (Aussage eines Separatistenführers). Diese Urlaubsaufenthalte scheinen auch für die Rebellen sehr kräftigend zu sein, denn inzwischen befinden sie sich offensichtlich wieder auf dem Vormarsch. Kiew ist an einer Waffenruhe interessiert, aber Kremlsprecher Dmitri Peskow winkt ab: Nicht mit uns, wir sind ja nicht Konfliktpartei. Kurz darauf sagt Putin höchstpersönlich, ein Abkommen zwischen den Rebellen und Kiew sei in wenigen Tagen möglich, und nennt dafür Bedingungen - Bedingungen einer Nichtkonfliktpartei.

Der Sprachregelung Moskaus entspricht auf westlicher Seite eine, die vorgibt, man könne den Konflikt irgendwie, mit einer Kombination aus Dialog und halbweichen Sanktionen, bewältigen. Das leuchtet zwar fürs Erste ein, weil ein direktes militärisches Eingreifen zugunsten der Ukraine zu Recht ausgeschlossen wird, aber de facto bedeutet es, dass Putin freie Bahn hat.

Situationselastisch geht er so weit, wie man ihn gehen lässt. Er muss gar nicht austesten, ob er mit einer offenen Invasion in der Ostukraine eine rote Linie überschreiten würde. Die Lage kontrolliert instabil zu halten - siehe Georgien/Südossetien, Moldau/Transnistrien - reicht völlig, um Russlands Einfluss zu wahren und den Druck auf Kiew je nach Erfordernis zu dosieren.

Eines hat er auf westlicher Seite damit zumindest erreicht: Die Nato, die in den vergangenen Jahren in eine Sinnkrise geschlittert ist, besinnt sich wieder ihrer ursprünglichen Rolle als Verteidigungsbündnis. Auf dem heute beginnenden Gipfel in Wales soll verstärkte militärische Präsenz in den osteuropäischen "Frontstaaten", Polen und den drei baltischen Republiken, beschlossen werden. Darüber hinaus wird aber auch das Nato-Russland-Grundabkommen von 1997 infrage gestellt. Es wurde in der Hoffnung auf ein definitives Ende des Kalten Krieges abgeschlossen und untersagt die dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen in Osteuropa. Mit Russlands Vorgehen in der Ukraine seien die Voraussetzungen, unter denen die Vereinbarung geschlossen wurde, nicht mehr gegeben, argumentiert etwa Estlands Staatsoberhaupt Toomas Hendrik Ilves stellvertretend für viele östliche Partner.

Putins "Angebot" eines Abkommens in der Ukraine kam sicher nicht zufällig am Vorabend des Nato-Gipfels. Beschließt die Allianz einen schärferen Kurs, kann er sagen: Wir sind gesprächsbereit, aber die Nato setzt auf Konfrontation - was ich immer schon gesagt habe.

Das Spiel ist leicht durchschaubar, aber deshalb nicht weniger wirksam. Putin hat einen Plan, den er situationselastisch adaptiert. Daraus folgt Frage drei: Kann man mit Putin einen Deal machen? Eine Antwort setzt voraus, dass auch der Westen einen Plan hat, dass er vom bloßen Reagieren zu einer proaktiven Diplomatie übergeht, die den Kremlchef dazu zwingt, endlich mit offenen Karten zu spielen. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 4.9.2014)