Einen Moment bitte. Rio muss gestillt werden. Noch zwei Fotos sollen an diesem sonnigen Tag in Berlin geschossen werden, doch jetzt muss sich Lavinia Wilson erst einmal um ihren fünf Monate alten Sohn kümmern. Aber reden könne man ja.

Na dann: "Frau Wilson, Sie spielen in einer Bestseller-Verfilmung die Hauptrolle. Hatten Sie Berührungsängste?"

Komische Frage, natürlich hatte sie keine: "Wer Angst vor kommerziellen Filmen hat, der kommt in Deutschland nicht weit", sagt sie. "Die Frage ist doch eine andere: Ist der Film eine Herausforderung oder nicht?"

Nur ein paar Wochen dauert es, bis der größte Film, in dem Wilson je mitgespielt hat, an den Kinostart geht. Die Verfilmung von Charlotte Roches zweitem Roman, "Schoßgebete".

Schauspielerin Lavinia Wilson in einem Kleid von Dolce & Gabbana, fotografiert in Berlin.
Foto: Irina Gavrich

"Normalerweise werden mir immer die Frauenfiguren mit den Neurosen angetragen, die komplizierten, abgründigen Figuren." Diesmal ist es etwas anders: Die Elisabeth, die Wilson in "Schoßgebete" spielt, ist mindestens genauso neurotisch wie komisch, genauso reflektiert wie selbstironisch. Eine ziemlich paradoxe, ziemlich moderne Frau. So jemanden hat die in Berlin lebende Schauspielerin noch nie gespielt. Also eine Herausforderung.

Preise statt Kohle

In der Vergangenheit war Wilson aufs Arthouse-Kino abonniert. Auf Frauenfiguren, die mit traurigen Augen und verschlossenen Mündern in die Welt schauen und deren Verkörperung einem zwar nicht so viel Geld, dafür aber ein paar Preise beschert. Oder wie es Wilson formuliert: "Die Schublade, in die ich am liebsten gesteckt werde, heißt 'geheimnisvoll mit Anspruch'".

Rolli von Etro, Rock von Antonio Gaspari.
Foto: Irina Gavrich

Man merkt Wilson an, was sie davon hält. 34 ist sie jetzt und hat im deutschen Kino schon ziemlich viel erreicht. In "Allein" spielte sie eine Borderline-Patientin und heimste dafür überschwängliches Lob von den Kritikern ein. Im Fernsehfilm "Ein Dorf sieht Mord"
gab sie eine Fotografin, die es in die Provinz verschlägt, und wurde dafür zu einer der "geheimnisvollsten Schauspielerinnen Deutschlands" (Die Welt) gekürt.

Und als sie zum letzten Jahreswechsel im "Tatort" auftrat, da war sie in den darauffolgenden Tagen in allen bunten Blättern zu sehen - mit Schwangerschaftsbauch. Die baldige Ankunft von Sohn Rio war zu diesem Zeitpunkt nämlich nicht mehr zu übersehen. (Der Vater ist der Schauspielkollege und langjährige Lebenspartner Barnaby Metschurat.)

Das ist auch jetzt der Fall. Der Kleine will nicht mehr gestillt, sondern geschaukelt werden. Passt schon, sagt Wilson und reicht das Baby an die Freundin und Taufpatin weiter, die praktischerweise zum Fotoshooting mitgekommen ist. Zwei Outfits warten ja noch.

Smoking von Boss, Bluse & Other Stories.
Foto: Irina Gavrich

Bayrisch bodenständig

So neurotisch Wilsons Charaktere sind, so geradlinig gibt sich die Schauspielerin selbst. Welches Kleid sie anziehen möchte? Och, da vertraue ich ganz euch! Hemdsärmlig würde man sagen, wenn Wilson ein Mann wäre. Bayrisch bodenständig könnte man sie natürlich auch nennen. Eine Teamplayerin.

In München ist Wilson aufgewachsen. Als Tochter eines amerikanischen Professors der Anthropologie und einer deutschen Politikwissenschafterin, die hie und da Aufnahmeleitung machte und so Lavinia zum Film brachte.

Wilson war damals elf und freute sich über die Aufstockung ihres Taschengelds. Mit 16 spielte sie dann in Connie Walthers "Das erste Mal". Die weiteren Stationen: Nach dem Abitur Schauspielunterricht in New York ("Ich brauchte eine Ausrede, um nach New York zu gehen."), Rollenangebote im Film und im Theater. Im vergangenen Jahr hat sie zudem an der Fernuniversität Hagen ein Philosophiestudium abgeschlossen.

Kleid von Hermès.
Foto: Irina Gavrich

"Es stimmt, ich habe früh angefangen, aber es hat lange gedauert, bis ich entschieden habe, dass die Schauspielerei mein Beruf wird." Vielleich, weil Wilson die Selbstdarstellung und Selbstbespiegelung, die in diesem Beruf oftmals zur Grundausstattung gehören, ziemlich fremd sind.

"Ich spiele so komplizierte, aufregende Figuren, da finde ich es ganz gut, dass mein Leben so normal ist", sagt sie, nachdem die Bilder endlich im Kasten sind und Rio seine Nahrungsquelle wieder fest im Mund hat. Umso bemerkenswerter, dass man das von der Rolle, mit der Wilson in den kommenden Wochen in der breiten Öffentlichkeit sehr präsent sein wird, nicht sagen kann.

Mantel & Unterkleid von Bottega Veneta.
Foto: Irina Gavrich

Die Elisabeth aus den "Schoßgebeten" ist so etwas wie das Alter Ego von Charlotte Roche. Genauso wie die Autorin hat sie bei einem tragischen Unfall ihre drei Brüder verloren. Worte wie Waschmaschine und Schwanzgröße purzeln ihr mit der gleichen Selbstverständlichkeit aus dem Mund.

"Schoßgebete" ist allerdings viel filigraner gestrickt als Roches Vorgängerroman, der Skandalband "Feuchtgebiete".

In Deutschland provozierte der Roman eine Debatte über das "konservative Familienbild" der Autorin, Roches Beschreibung diverser Körperfunktionen erregte auch diesmal wieder die Gemüter. "Wenn es nur um Sex ginge, hätten wir gleich einen Porno drehen können", sagt Wilson, und setzt dann hinzu: "Ich schäme mich viel mehr, wenn ich eine Szene schlecht spiele, als wenn das Publikum meinen Po sieht."

Dafür hat die Schauspielerin auch wirklich keinen Grund. Kaum ein Bild, das von ihr an diesem Tag gemacht wird, auf dem sie nicht stark, interessant, schön aussieht. Die Sommersprossen, die zarte Figur, die kehlige Stimme. Immer wieder fällt während des Shoots der Name Julianne Moore. Mit der amerikanischen Kollegin hat Wilson nicht nur die roten Haare gemein.

Kleid von Boss.
Foto: Irina Gavrich

Schaut man sich die Schauspielerin auf der Leinwand an, dann versteht man, warum Regisseur Sönke Wortmann sie für die Rolle der Elisabeth ausgewählt hat: Die Neurotikerin gibt die Ulknudel, die Ulknudel die Neurotikerin. An die Autorin muss man bei der Darstellung der Elisabeth dennoch nur bedingt denken: "Jeder kennt Charlotte Roche, ihren Habitus, ihre Gesten, ihre Sprechweise. Wenn ich versucht hätte, sie nachzumachen, dann hätte das sicher lächerlich ausgesehen."

Langsam wird Rio wieder quengelig. Die Fotos sind gemacht, es ist Zeit, nach Hause zu fahren. Das normale Leben hat Lavinia Wilson wieder. (Stephan Hilpold, Rondo, DER STANDARD, 5.9.2014)