Im Gegensatz zu Naturwissenschaften verändern ökonomische Theorien ihr Objekt, die wirtschaftliche Realität, und damit die Verteilung von Einkommen, Vermögen, Macht." Ausgehend von dieser These hat Stephan Schulmeister in einem sehr lesenswerten Artikel (der Standard, 26. 8. 2014) gezeigt, wie der Vormarsch der neoliberalen Ökonomie seit den 1960er-Jahren korrelierte mit einer grundlegenden Umorientierung der Wirtschaftspolitik, einer Entfesselung der Finanzmärkte, staatlicher Sparpolitik und einer "Demontage des Sozialstaats". Aber: Abgesehen davon, ob man von Letzterer überhaupt sprechen kann (in Österreich etwa wurden noch in jüngster Zeit neue Sozialleistungen eingeführt), stellt sich doch die Frage, ob der Autor nicht Ursache und Wirkung verwechselt.

Von Präsident Roosevelt, einem Vertreter des "sozialdemokratischen" New Deal in den USA der 1930er-Jahre, ist folgendes Bonmot überliefert: Nach einer langen persönlichen Unterhaltung mit Keynes wurde er gefragt, was er von dessen Theorien halte; seine Antwort: Ich habe nichts davon verstanden. Margaret Thatcher, die Hauptpromotorin der neoliberalen Wende in den 1970er-Jahren, schreibt in ihrer Biografie wörtlich: "Bevor ich eine Zeile der großen liberalen Ökonomen gelesen hatte, wusste ich aus der Buchführung meines Vaters (der Gemüsehändler war, Anm.), dass der freie Markt ein riesiges, sensibles Nervensystem darstellt, das auf Ereignisse und Signale aus der ganzen Welt reagiert, um die Bedürfnisse der Menschen in unterschiedlichen Ländern, Klassen und Religionen zu erfüllen, mit einer Indifferenz gegenüber deren Status."

Die Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft wird bei ökonomischen Theorien nicht anders sein als bei anderen: Politiker suchen sich jene aus, die ihren Interessen, Wertorientierungen und Absichten am besten entsprechen. Dass die Theorien ihrerseits einen gewissen, wenn auch geringen, Einfluss auf die Politik ausüben, mag man konzedieren; dieser erfolgt auch über den Umweg der öffentlichen Meinung, welche gerade Ökonomen unterschiedlicher Provenienz - siehe Milton Friedman oder Paul Krugman - nach Kräften zu beeinflussen versuchen (und dabei erfolgreicher sind, wenn sie sich auch mit dem Titel eines Nobelpreisträgers schmücken können). Dass ökonomische Theorien vermeintlich mehr Einfluss haben, ist wohl einfach dadurch zu erklären, dass die Wirtschaftspolitik das Substrat der gesamten Politik ist.

So ist zu erklären, warum die schwedische Reichsbank 1968 den "Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Ökonomie" gestiftet hat. Daraus ist nicht abzuleiten, dass die Ökonomie einen höheren wissenschaftlichen Status oder mehr politische Bedeutung hätte als Psychologie, Soziologie oder ähnliche Fächer. Meines Wissens wurden noch über keinen Ökonomen beim Ableben weltweit so viele große Nachrufe veröffentlicht wie 2002 bei jenem des französischen Soziologen Pierre Bourdieu; dabei ist evident, dass dies vor allem auf sein politisches Engagement und viel weniger auf seine sehr simpel gestrickte Theorie zurückzuführen war. (Max Haller, DER STANDARD, 30.8.2014)