Für den Deutschen Buchpreis nominiert: Michael Köhlmeier.

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Winston Churchill, der gebildete und vielfach begabte britische Staatsmann, schrieb nicht nur eine sechsbändige Geschichte des Zweiten Weltkriegs, für die er 1953 sogar mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde: Er erzählte unter anderem aus seinen frühen Jahren (My Early Life, 1930) und veröffentlichte in vier Teilen eine Biografie über seinen Vorfahren John Churchill, den ersten Earl of Marlborough (1650-1722). Dass sich diese Lebens- und Epochendarstellung, erschienen unter dem Titel Marlborough. His Life and Times, wie ein spannender Roman lese, sei Churchills jüngster Tochter Mary zu verdanken, die dem Vater mangels Alternativen beim Diktieren zuhörte. Sie wäre, soll Churchill später festgestellt haben, weniger mit "history" als mit "story" zu beeindrucken gewesen. Mary habe ihn gezwungen, sich verständlich auszudrücken, das Narrative zu betonen und sich mit Reflexionen zurückzuhalten.

Dies beherzigte Churchill auch beim Verfassen seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Angeblich wollte er ihr das folgende Selbstzitat als Motto voranstellen: "Die Weltgeschichte, so bombastisch sie auch mitunter auftritt, sie ist nur die Kulisse, vor der ein Mensch oder zwei Menschen oder ein halbes Dutzend einen Teil ihres Lebens leben. Man kann nur Geschichten von einzelnen Menschen erzählen, Geschichte als solche lässt sich nicht erzählen."

Ob es sich dabei wirklich um ein Selbstzitat von Churchill handelt? Oder nicht eher um eine Lebensweisheit von Michael Köhlmeier, die der Autor dem Premierminister ziemlich gefinkelt in den Mund legt? Tatsache ist lediglich: Wie schon bei Abendland und zuletzt, 2013, bei Die Abenteuer des Joel Spazierer erzählt Köhlmeier auch in seinem neuen Roman Zwei Herren am Strand die Geschichte des 20. Jahrhunderts beziehungsweise einiger Jahrzehnte anhand der Schicksale weniger Protagonisten nach.

Im Mittelpunkt von Abendland, 2009 veröffentlicht, standen der Mathematiker Carl Jacob Candoris und dessen Biograf Sebastian Lukasser. Nun, in Zwei Herren am Strand, geht es um die eher außergewöhnliche Freundschaft von Charlie Chaplin und Winston Churchill. Der prinzipielle Unterschied ist natürlich, dass die beiden - im Gegensatz zu Candoris und Lukasser, das Alter Ego von Köhlmeier - keine fiktiven Figuren sind. Doch der namenlose Erzähler, ein Gymnasiallehrer für Geschichte und Literatur, kann unmöglich all das wissen, was er zu berichten weiß, auch wenn er noch so viel recherchiert hat und im Wortsinn unglaubliche Belege hervorzuzaubern versteht, darunter einen unbekannten Churchill-Brief, von dem er angeblich "eine Kopie einer Kopie einer Kopie, blass und an manchen Stellen schwer lesbar" besitzt.

Köhlmeier treibt mit seinen Lesern (und für diese) ein genussvolles Spiel: Er lässt wiederholt William Knott, den privatesten Privatsekretär von Churchill, zu Wort kommen - den es wirklich gab. Und er zitiert Mary Soames, Churchills Tochter, die tatsächlich eine Biografie ihres Vaters unter dem Titel His Life As a Painter veröffentlichte. Aber er erwähnt auch den brillanten Philosophen Marc Landier, für den im Netz kein Hinweis zu finden ist, und er zitiert mehrfach aus einem Interview, das Charlie Chaplin 1977, kurz vor seinem Tod, dem Journalisten Josef Melzer gegeben haben soll. Der Name ist wohl eher eine Reverenz an Die Strudlhofstiege von Doderer, deren zweiter Titel Melzer und die Tiefe der Jahre lautet.

Gegenüber Melzer erwähnt Chaplin, dass er sich schon als Kind zugetraut hätte, Menschen mit seiner Kunst zu betrügen: "Es würde unendlich schwer sein und ein unendlich böses Werk, aber ich traute es mir zu, und es bereitete mir kein mürrisches Gewissen." Seinem Vater hätte es sogar "Freude bereitet, die Menschen hinters Licht zu führen". Und Knott, der als Churchills privater Aufpasser alle Geheimnisse für sich bewahren musste, soll resümierend einbekannt haben: "Seit fünfunddreißig Jahren lüge ich: Das ist meine Geschichte, und es ist mein Beitrag zur Geschichte des 20. Jahrhunderts."

Auch Köhlmeiers Schelmenromanheld Joel Spazierer war ein großer Lügner vor dem Herrn. Man fällt auf ihn herein - wie man auch auf Köhlmeier hereinfällt, der zwar leise, aber mit dem Brustton der Überzeugung erzählt: Man kauft ihm (fast) jede Episode ab.

Der Roman beginnt, für den Vorarlberger Autor nicht untypisch, recht gemächlich. Wie auf einem Tablett werden die Erzählstränge ausgebreitet und die beiden Protagonisten skizziert. Erst auf Seite 119 (und damit in der Mitte von Zwei Herren am Strand) kündigt der Icherzähler, dessen Motive noch im Dunkeln liegen, eine Begebenheit an, die "einen ersten Höhepunkt" seiner Geschichte darstelle. Von diesem Moment an hält Köhlmeier kunstvoll die Spannung: Nach und nach verknüpfen sich Motive, Zeitebenen und scheinbar zufällige Begegnungen zu einem großen und auch überraschenden Ganzen.

Für Thrill sorgt in erster Linie der Kampf gegen Adolf Hitler. Nicht jener von Churchill, auch wenn London von den Deutschen bombardiert wird, sondern der Widerstand, den Chaplin, fälschlicherweise als Jude denunziert, mit seinem hellsichtigen Film The Great Dictator (1940) leistet.

Ausgangspunkt für Köhlmeiers Roman ist eine Begegnung der beiden Briten, die aus konträren sozialen Schichten kommen, 1927 auf einer Housewarmingparty am Strand von Santa Monica. Chaplin und Churchill waren während einer Darbietung die Einzigen auf der Terrasse - und entschlossen sich zu einem Spaziergang. Im Schutze der Dunkelheit gestehen sie einander, dass sie (wie Köhlmeier) von Depressionen heimgesucht werden und seit dem sechsten Lebensjahr an Selbstmord denken. In der Folge beschließen sie eine "Allianz gegen den schwarzen Hund", wie bereits Samuel Johnson die Depression genannt habe: Sie versprachen einander, "dass, wann immer einer Hilfe benötigt, der andere, wo immer auf der Welt er ist, alles liegen und stehen lässt und kommt".

So kommt es unter anderem zu einem Treffen der beiden Herren am Strand von Biarritz. Dieses ist für den Romantitel ausschlaggebend. Und dann stellt sich heraus, dass noch jemand Mitglied in ihrem "Club" ist. Wer? Als Hinweis wird die Bürgschaft von Schiller zitiert: "Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte!" Sehr cool. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 23./24.8.2014)