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Netflix startet im deutschsprachigen Raum Mitte September.

Foto: AP/Sukman

Wien - Während Journalist_innen nicht zuletzt wegen mangelnder Innovationsfreude in traditionellen Medienunternehmen ihre Jobs verlassen müssen (oder wollen), sind andere Zweige der Industrie mit Experimentierfreude erfolgreich. Besondere Aufmerksamkeit hat der Videostreaming-Dienst Netflix erregt. Netflix hat mittlerweile mehr als 50 Millionen Abonnenten, die TV-Shows, Serien und Filme für einen monatlichen Fixpreis via Netz jederzeit konsumieren können. Eine Power-Point Präsentation mit dem Titel „Freedom & Responsibility“ über die zuerst einmal überraschende Human-Ressources Politik des Unternehmens – es wird auf Selbstverantwortung gesetzt, Mitarbeiter bekommen unendlich Urlaub und hohes Gehalt - wurde mittlerweile mehr als 9 Millionen Mal abgerufen. Anlässlich des Markeintritts in Österreich, Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und der Schweiz im September („Zehn Fragen zum Netflix-Start in Österreich“ werden hier beantwortet) haben wir für den Journo-Blog drei Expert_innen gefragt, was die Netflix-Kultur ausmacht.

Customer-Experience im Mittelpunkt

"Netflix zeichnet sich durch seine extreme Fokussierung auf Customer-Experience aus", meint Jeremy Caplan, Leiter des Programms "Entrepreneurial Journalism" an der City University New York. Wie bei Zappos, Amazon und Apple heißt es auch bei Netflix: Service, Service, Service, egal auf welcher Plattform - anders als bei vielen traditionellen Medienunternehmen, die oft noch immer auf Print, TV oder andere Ausgabekanäle setzen, anstatt qualitativ hochwertigen Service und Inhalt dort zu bieten, wo die Kunden sind. "So wie Netflix Videos in Hunderte von Nischenkategorien nach spezifischen Kundenbedürfnisse gliedert, könnten sich auch Medienunternehmen viel stärker am konkreten Informations- und Nachrichtenbedarf und dem Nutzungsverhalten ihrer Communities orientieren, statt die traditionellen Ressortgliederungen und die Logiken traditioneller Ausgabeformate zu erhalten."

Netflix, der Parade-Disruptor

Mit dieser Strategie ist Netflix für Lucy Küng, international lehrende Medienmanagement-Professorin, ein Paradebeispiel für einen Disruptor in der Medienbranche: "Netflix wurde noch vor einem Jahrzehnt überhaupt nicht als Konkurrenz wahrgenommen. Aber wen wundert es, dass Unternehmen wie HBO im Versand von DVDs in gepolsterten Kuverts keine Bedrohung sahen." Mittlerweile übersteigen Netflix‘ Streaming-Einnahmen die Abo-Einnahmen von HBO; mit Eigenproduktionen ist Netflix nun auch selbst in der Contentproduktion tätig, "sehr disruptiv, mit der Nutzung von Big Data in der Show-Entwicklung". Vor allem aber, so Küng, habe Netflix einen Riesenvorteil: Es ist völlig frei von den Lasten traditioneller Unternehmen, hat keine hohen Overheads, ist mit geringeren Gewinnspannen profitabel, kann es sich leisten zu fokussieren und eine neue Unternehmenskultur zu etablieren.

Wenige Regeln, viel Autonomie

Das Ziel von Netflix ist es, die besten Leute zu beschäftigen und dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Das Außergewöhnliche der Unternehmenskultur sei, sagt Gerald Mitterer, Berater bei der Beratergruppe Neuwaldegg, die Konsistenz des Menschenbilds und die Konsequenz in der Umsetzung: "Ein Mindestmaß an Regeln und damit ein hohes Maß an Autonomie in der Selbstorganisation. Schließlich sollen die Menschen ihre Intelligenz auch einsetzen können."

Im Netz wird das ausgefeilte HR-Konzept gar als "eines der wichtigsten Dokumente der modernen Arbeitskultur" und "Neuerfindung der HR" gefeiert. "Gezieltes Employer-Branding", meint Mitterer. Er halte die Ideen von Netflix nicht für Neuerfindungen - "viele Organisationen experimentieren bereits seit einigen Jahrzehnten hoch erfolgreich mit Formen der Selbstorganisation" - anregend sei aber, welche Durchgängigkeit und Einfachheit in den Organisationsprinzipien in HR-Prozessen bei Netflix stecke. Viele der Grundideen könnten anderen Unternehmen Anregungen geben, meint der Unternehmensberater, etwa:

  • der Abschied von der Illusion der Kontrollierbarkeit
  • die Ausrichtung an konkreten Kernwerten und die konsequente Verzahnung in alle relevanten Prozesse der Organisation
  • die Verantwortlichkeit gegenüber Kollegen/Peers anstelle von Vorgesetzten

Freilich: Für Mitarbeiter bedeute dies ein sehr hohes Maß an Eigenverantwortung, Führungskräfte müssten lernen, loslassen zu können.

Mitterer erlebt in immer mehr Organisationen eine Ratlosigkeit, wie man mit der steigenden Komplexität umgehen kann. Eine Herausforderung, die der Medienbranche nicht fremd ist. Vielleicht werden auch in traditionellen Unternehmen bald solche Modelle der Eigenverantwortung und Selbstorganisation Usus? "Ich glaube nicht, dass dieses Modell aktuell schon am Weg ist Mainstream zu werden, schließlich basieren die heutigen Organisationsformen vielfach auf Ideen der 1920er Jahre – es hat also auch der aktuelle Mainstream lange gebraucht." (Daniela Kraus, derStandard.at, 21.8.2014)