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Zivilisten agieren als "Peacekeeper", um die Protestierenden auf den mit der Polizei ausgehandelten Bahnen zu halten.

Foto: REUTERS/Joshua Lott

Gary Hill hat übernommen, er verkörpert jetzt die Autorität. Jedenfalls gibt sich der Pfarrer alle Mühe, den Demonstrationszug zu lenken. Mit rudernden Armen, wie ein hyperaktiver Lotse, steht er im flackernden Licht einer Ampel, die für ein paar Stunden nur die Farbe Grün zu kennen scheint. "Und jetzt wenden, Leute! Immer schön linksherum! Das ist es, gut macht ihr das, Leute. Ich bin stolz auf euch."

Pfarrer und Krisenmanager

Sonntags predigt der drahtige Geistliche in der Temple Church of Christ, einer afroamerikanischen Kirche in Ferguson. In dieser Nacht ist er Krisenmanager, mit anfangs dröhnender, später nur noch erschöpft krächzender Stimme darauf bedacht, den Zorn in geordnete Bahnen zu lenken. Gary Hill, der Friedensapostel.

Wer in Amerika protestiert oder streikt, der marschiert im Kreis. In Ferguson ist es eher ein Oval, ein sehr langgezogenes, von einer Ampelkreuzung zur nächsten und von dort wieder zurück. Und "Peacekeeper" wie Gary Hill sorgen dafür, dass keiner ausschert aus der vorgeschriebenen Route, keiner von den jungen Hitzköpfen verletzt, was besonnenere Köpfe mit der Polizei ausgehandelt haben: ein provisorisches, fragiles Regime, das den Protestlern eine Art Korridor fürs Marschieren freilässt.

Einen Korridor, in dem die State Troopers in ihren blauen Polizeiuniformen nur hier und da in kleinen Gruppen am Straßenrand stehen, ihre Schutzschilde demonstrativ lässig in den Händen. Sie wollen, sie sollen nicht wirken wie die massive Phalanx der vergangenen Nächte, eine Phalanx, die Fergusons junge Männer eher zum Widerstand reizt, statt sie zum Aufgeben zu bewegen.

Provisorische Gasmasken und Tücher

Diesmal scheint die Absprache zu halten, jedenfalls ziemlich lange. "Hände hoch! Nicht schießen!", rufen die Demonstranten ihren Slogan in die Nacht. Abends gegen neun sind es vielleicht dreihundert, später werden es mehr. Einige tragen Tücher vor den Mündern, aus Schutz gegen Tränengas, im Zweifelsfall wohl auch, um sich vermummen zu können.

Hier und da eine Gasmaske, provisorisch gebastelte Masken, die nicht so aussehen, als würden sie viel nützen - und wohl sowieso eher symbolisch gemeint sind. "Wir wollen Frieden, damit wir Gerechtigkeit kriegen", ruft Charles Brooks in sein Megafon. Es ist ein neuer Spruch, eine Parole, die zur Entspannung beitragen soll. Die Alternative zum "No Justice! No Peace!", wie es in den Nächten zuvor durch Ferguson schallte.

Keine Gerechtigkeit, ergo kein Frieden: Solange er nicht vor Gericht steht, der Polizist, der den Teenager Michael Brown erschoss, solange wird Ferguson nicht zur Ruhe kommen, geht die kämpferische Logik der Jungen. Erst mal Ruhe, damit die Mühlen des Rechtsstaates richtig malen können, setzen nun ihre Väter dagegen. Es sind lokale Autoritätspersonen, die ihre Stimme erheben. Auf Leute von außerhalb hört Ferguson nicht.

Inoffizielle Ordnungshüter

"Vielleicht ist das heute ein Wendepunkt“, hofft Charles Brooks. Schweißgebadet, im ärmellosen Hemd, läuft der 41-Jährige mit der Figur eines Bodybuilders neben den Demonstranten her, um sie, genau wie Hill, auf der vorgeschriebenen Route zu halten.

Brooks fährt Kühlschränke und Waschmaschinen aus, unmittelbar nach der Schicht eilte er zur Florissant Avenue, um sich als inoffizieller, nicht uniformierter Ordnungshüter zu versuchen. "Wir müssen Brücken bauen zur Polizei“, sagt Hill. "Aber ganz ehrlich, im Moment steht noch nicht mal der erste Brückenpfeiler. Wir sind am Punkt Null.“

Storyful/Livestream/KARG Argus Radio

Am Ende der Nacht, der zehnten Nacht der Unruhen, zieht Ron Johnson, der afroamerikanische Highway-Patrol-Captain, der die Ordnungshüter am Unruheherd kommandiert, eine Bilanz, die vergleichsweise positiv ausfällt. Nur 47 Festnahmen.

Die Polizei setzte erstmals kein Tränengas ein, nur Pfefferspray. Von der anderen Seite flogen keine Molotowcocktails, nur hier und da ein paar Steine und Flaschen. Anderswo läse sich Johnsons Bilanz vielleicht schockierend, in Ferguson ist sie ein Fortschritt. Ein kleiner.

"Ferguson ist Obamas Katrina"

Der Mittwoch ist der Tag Eric Holders, des Justizministers, der aus Washington nach St. Louis fliegt, das erste Kabinettsmitglied, das sich blicken lässt in dem Hexenkessel. Dass Barack Obama das Geschehen weiter nur aus der Ferne beobachtet, trägt ihm heftige Widerworte ein, auch und gerade von früheren Fans. "Ferguson ist Obamas Katrina", sagt Kevin Powell, Sprecher von BK Nation, einer New Yorker Initiative, die sich den Rassenbeziehungen widmet.

George W. Bush habe den Fehler gemacht, das Ausmaß der Katastrophe – das überflutete New Orleans nach dem Wirbelsturm – in den ersten Tagen danach unterschätzt zu haben. Obama könne sich nicht leisten, dass Ferguson zu einem ähnlichen Schandfleck für ihn werde, orakeln seine Kritiker.

Gerade Obama nicht, der erste dunkelhäutige Präsident der amerikanischen Geschichte, die Symbolfigur einer (zu frühen, zu sehr von Träumen getragenen) Hoffnung auf ein Amerika, in dem die Farbe der Haut keine Rolle mehr spielt.

Grand Jury tagt

Ob er kommt oder nicht, die Demonstranten an der Florissant Avenue interessiert es eigentlich nur am Rande. Viel wichtiger ist ein anderes Symbol, die Eröffnung des Verfahrens gegen Darren Wilson, den Polizisten, der sechs Mal auf Michael Brown feuerte.

Noch am Mittwoch sollte eine Grand Jury tagen, das Gremium, das zu entscheiden hat, ob Wilson demnächst vor einem Richter steht oder nicht. (Frank Herrmann, derStandard.at, 20.8.2014)