Nicht immer ist eine Normalisierung der Blutzuckerwerte unbedingt notwendig, sagt Diabetes-Expertin Kinga Howorka.

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derStandard.at: Welcher Blutzuckerwert gilt als nüchtern, welche nach dem Essen als gesund, ab welchem Wert sollte man vorsichtig sein, ab welchem gilt man als Diabetiker Typ 2?

Kinga Howorka: Die "Normalität" ist durch die Grenzwerte des Zuckerbelastungstests definiert: Nüchtern ist alles unter 100 mg/dl okay. Zwei Stunden nach dem Austrinken von 75 Gramm Traubenzucker sollte der Blutzucker wieder auf unter 140 mg/dl.

derStandard.at: Was ist ein idealer Zielwert?

Howorka: Bei gesunden Menschen zielt die Bauchspeicheldrüse auf 80mg/dl. Ist der Blutzucker nach dem Essen vorübergehend höher, wird von Betazellen der Bauchspeicheldrüse sofort Insulin ausgeschüttet, um Glukose in die Körperzellen zu transportieren. Falls Sie bereits Diabetes haben, ist eine Normalisierung der Blutzuckerwerte weder leicht durchführbar noch wirklich notwendig – ausgenommen in der Schwangerschaft. Durchschnittblutzucker unter 140 mg/dl bei Typ 2 Diabetes oder 160 mg/dl bei insulinabhängigem Typ 1 Diabetes reichen besonders dann aus, wenn sie am Anfang ihres Diabetes noch besser eingestellt waren.

derStandard.at: Ärzte sagen, es ist umso gesünder, je niedriger der Zucker eingestellt wird. Viele Patienten würden lieber einen höheren Blutzucker in Kauf nehmen, dafür aber keinen Stress mit eventuellen Unterzuckerungen haben. Ein gefährlicher Gedanke?

Howorka: Es gibt viel mehr Evidenz dafür, dass Folgeschäden stärker mit der Fläche unter der Blutzuckerkurve zusammenhängen, als mit den Schwankungen, obwohl letztere besonders die Betroffenen irritieren. Dies gilt vor allem für die ersten beiden Jahrzehnte ihres Diabetes. Das Phänomen "Metabolic Memory" oder Stoffwechselgedächtnis belegt, dass Diabetespatienten sehr von einer "scharfen“ Einstellung" in den ersten Jahrzehnten der Krankheit profitieren. Das schützt sie auch vor Folgeschäden an Gefäßen, auch dann, wenn die Blutzucker-Kontrolle schlechter geworden ist.

derStandard.at: Wie wichtig sind Blutfett- und Blutdruckwerte für Diabetiker ?

Howorka: Wie schon erwähnt, die Folgeschäden-Wahrscheinlichkeit ist primär von der Fläche unter der Blutzuckerkurve bestimmt, "multipliziert" mit Blutfetten und dem Blutdruck. Diese Fläche lässt sich gut mit dem Durchschnittsblutzucker oder dem Laborparameter HbA1c vergleichen - das ist der Durchschnitt in den sechs Wochen vor der Blutabnahme. Allerdings ist dabei auch Ihre Diabetesdauer zu berücksichtigen: bei jenen mit Diabetesdauer von mehreren Jahrzehnten ist erfahrungsgemäß die Einstellung erheblich weniger wichtig als die Kontrolle der Blutdruck- und Blutfettwerte.

derStandard.at: Welchen maximalen Blutdruckwert sollten Diabetiker haben und warum? Es heißt immer wieder nicht über 130/80 mm/Hg.

Howorka: Dies ist weiterhin gültig, da selbst minimal erhöhte Blutdruckwerte die Prognose unnötig verschlechtern können. Leider werden die Kosten der Blutdruckschulung, die in Deutschland bereits Routine ist, in Österreich erst im Rahmen eines geplanten Disease Management Programms übernommen, und zwar für Patienten erst nach ihrem Herzinfarkt. Dabei lässt sich durch Kombination von Lifestyle-Maßnahmen und Therapie nach einer Schulung der Blutdruck praktisch immer normalisieren und die Prognose der Patienten verbessern.

derStandard.at: Gibt es neben dem Blutdruck und dem Hba1c noch andere Blut- oder Harnwerte, die beim Diabetiker günstigerweise niedriger sein sollten als bei Nicht-Diabetikern?

Howorka: Ja, offensichtlich sind die Blutfettwerte, insbesondere das "böse" LDL Cholesterin, ganz wichtig. Hier gilt beinahe "umso tiefer, desto besser". LDL Senkung unter 100 mg/dl, häufig aber sogar unter 70mg/dl ist erforderlich, um das Risiko des Infarktes herabzusetzen. Lifestyle-, Ernährungs- und medikamentöse Maßnahmen können die Aussichten dramatisch verbessern, wobei diese erfahrungsgemäß nie ohne Blutfettschulung angemessen eingesetzt werden. Diabetes ist hinsichtlich der Prognose ein "Äquivalent der koronaren Herzkrankheit": als Diabetiker, auch ohne Symptome, haben Sie eine ähnliche Wahrscheinlichkeit des Herzinfarkts, wie ein Nichtdiabetiker nach seinem ersten Herzinfarkt. Frauen mit Diabetes genießen vor der Menopause nicht den Schutz durch Ihre Hormone, aber ihre Langzeitprognose lässt sich stark durch Blutdruck- und insbesondere Blutfettnormalisierung verbessern.

derStandard.at: Ganz Österreich trinkt viel zu viel Alkohol. Dürfen Diabetiker ab und zu ein Glas trinken oder müssen sie es ganz bleiben lassen?

Howorka: Alkohol senkt die Zuckerproduktion der Leber, wodurch er gerne zur "Eigentherapie" verwendet wird. Nur Vorsicht: Alkohol ist Fett-verwandt und wird bei häufigen Genuss zu Triglyceriden umgewandelt. Das kann sich negativ auf das Gewicht und die Gefäße auswirken. Alkohol kann auch deshalb die Patienten verführen, weil es etwas den Insulinbedarf senkt - so erleben die Menschen das Trinken als etwas Positives, besonders im sozialen Kontext. Nur falls sie die Mengen erhöhen, häufig trinken, Zeichen der Abhängigkeit entwickeln, oder schwere Unterzuckerungen hatten, sollte man lieber die Finger davon lassen.

derStandard.at: Noch eine andere Norm, diesmal bezüglich Sport: Es heißt, dass 10.000 Schritte pro Tag das Minimum sind, um gesund zu bleiben. Diabetiker müssten das also umso mehr machen, oder?

Howorka: 10.000 Schritte klingt toll, ist aber bei den "Wenig-Gehern" nicht unbedingt umsetzbar. Muskelarbeit ist die einzige ursächliche Therapie der Insulinresistenz, also des Typ2 Diabetes und des metabolischen Syndroms. Die jetzigen Empfehlungen beinhaltet zumindest 180 Minuten Ausdauertraining pro Woche, kombiniert mit zwei bis drei Sitzungen Muskeltraining pro Woche. Bei Diabetes führt Training zu einer Verminderung des Bedarfs an Insulin und anderen Medikamenten - auch koronare Herzkrankheit, Depression, Osteoporose, Arthrose, Demenz und Muskelschwund im Alter treten seltener auf. (Peter Illetschko, derStandard.at, 20.8.2014)