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Literaturnobelpreisträger Imre Kertész bei einer Autogrammstunde für seinen Tagebuchband "Letzte Einkehr". Der Orbán-Kritiker erhält den ungarischen Sankt-Stephans-Orden.

Foto: EPA / Laszlo Beliczay

Der ungarische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész erhält heute, Mittwoch, die höchste Auszeichnung, die der Staat des Rechtspopulisten Viktor Orbán zu verleihen hat: den Sankt-Stephans-Orden. Ob der Autor des schonungslosen Auschwitz-Buches Roman eines Schicksallosen die Medaille selbst aus den Händen von Staatspräsident János Áder entgegennehmen würde, war ungewiss. Der 84-jährige Kertész leidet seit Jahren an der Parkinson'schen Krankheit, lebt sehr zurückgezogen und sei - wie er der Literaturkritikerin Iris Radisch vor knapp einem Jahr in der Zeit eingestand - des Lebens überdrüssig.

Die hohe Ehrung ist insofern bemerkenswert, als die Orbán-Regierung die staatlichen Auszeichnungen nahezu ausschließlich Personen vorbehält, die sich für die Orbán-Partei Fidesz oder die rechtsextreme Jobbik engagieren - oder zumindest als unpolitisch gelten. Kertész ist hingegen als scharfer Kritiker des gegenwärtigen ungarischen Nationalismus hervorgetreten. In den Orbán- und Jobbik-Medien wurde er regelmäßig diffamiert, seine Zugehörigkeit zu Ungarn infrage gestellt.

Befremden bei Linken und Liberalen

In der linken und liberalen ungarischen Öffentlichkeit stieß es auf Befremden, dass sich Kertész willens zeigte, eine hohe Auszeichnung des Orbán-Staates anzunehmen. Man verwies darauf, dass der Sankt-Stephans-Orden als solcher geschichtlich stark vorbelastet ist: Die in der (Doppel-)Monarchie verliehene Medaille war 1938 vom rechtsautoritären Zwischenkriegsherrscher und Hitler-Verbündeten Miklós Horthy zwischenzeitlich reaktiviert worden, ehe Orbán den Orden im Jahr 2011 aus der Versenkung holte.

Doch Kertész ist in seinem tiefsten Naturell ein Nonkonformist. Seine zivilisationskritischen Lehren aus dem Holocaust, in denen Auschwitz als monströses Versagen der universellen europäischen Kultur erscheint, weisen gewisse Resonanz mit den europapessimistischen Ansichten des Orbán-Kreises auf. Doch sind die Ansätze diametral entgegengesetzt: Während Kertész in der ihm eigenen Sprache bohrende Fragen nach der Verantwortung aufwirft, versucht der Orbán-Staat die Verantwortlichkeit für den ungarischen Holocaust - die Deportation von rund einer halben Million jüdischer Ungarn in die nationalsozialistischen Todeslager - zu leugnen und zu verdrängen.

Deshalb wurde das Holocaust-Gedenkjahr 2014 zu einem Fiasko für die Orbán-Regierung. Im Zentrum von Budapest stellte sie ein Denkmal auf, das Ungarn und die Juden gleichermaßen als Opfer der Deutschen darzustellen versucht. Die jüdischen Organisationen zogen sich aus den gemeinsamen Programmen zum 70-Jahr-Gedenken zurück. Die Ehrung des Holocaust-Überlebenden und Holocaust-Sezierers Kertész stellt deshalb seitens der Orbán-Regierung einen geschickten Schachzug dar, auch wenn sie nur ein Feigenblatt bleibt.

"Holocaust-Industrie"

Der Geehrte haderte nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises im Jahr 2002 damit, dass er nun selbst zum Bestandteil einer "Holocaust-Industrie" geworden sei, die er ablehnt, weil sie Auschwitz auf einen trivialen deutsch-jüdischen Gegensatz reduziere. "Ich bin nicht länger Holocaust-Clown", schrieb er eher verzweifelt im Tagebuchband "Letzte Einkehr".

Mit der Annahme des Orbán-Ordens, so schrieb das Internetportal index.hu, drohe er nun zum "Holocaust-Clown der ungarischen Regierung" zu werden. (Gregor Mayer aus Budapest, DER STANDARD, 20.8.2014)