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Beinahe untergegangen: Vier Jahrzehntausende dauerte die kritischste Phase der Vereisung, die nur einige hundert Schwertwale übertaucht haben.

Foto: Corbis/Frans Lanting

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Orca-Skelette aus Museen (wie hier im Zoologischen Museum Kiel) dienten den Forschern als Quellen für genetisches Material, das analysiert und verglichen wurde.

Foto: AP Photo/Heribert Proepper

Durham - Der Kontrast könnte kaum größer sein: An den Stränden Namibias erstreckt sich eine der trockensten Wüsten unserer Erde. Nackte Sanddünen, so weit das Auge reicht. Im angrenzenden Ozean dagegen wimmelt es von Leben. Der kalte Benguelastrom trägt nährstoffreiches Wasser aus mehreren hundert Metern Tiefe an die Oberfläche und kurbelt so die Produktion von Biomasse an.

Das Strömungssystem erstreckt sich von der südlichen Westküste Afrikas bis östlich vom Kap der Guten Hoffnung. Der Reichtum an Plankton ist Nahrungsgrundlage für unzählige Meerestiere. Unter ihnen ist auch ein majestätisches, schwarz-weiß gefärbtes Geschöpf. Der Schwertwal, zoologisch Orcinus orca, steht praktisch an der Spitze dieser Nahrungspyramide. Vor ihm nehmen sich sogar die größten Haie in Acht.

Um Haaresbreite überlebt

Um ein Haar hätte es den König der Meere allerdings nicht mehr gegeben. Eine internationale Expertengruppe ist mithilfe der Molekulargenetik einem urzeitlichen Drama auf die Spur gekommen. Schwertwale, so lautet das Fazit der Studie, standen während der letzten Eiszeit, dem sogenannten Weichsel-Glazial, knapp vor dem Aussterben. Ihre Bestände scheinen damals fast überall auf der Welt eingebrochen zu sein. Nur in einem Refugium konnten sich die intelligenten Meeressäuger offenbar halten - vor den südafrikanischen Küsten eben.

Die Forscher haben DNA von Schwertwalen aus verschiedenen heutigen Populationen gesammelt und untersucht. Sie extrahierten dabei zunächst Zellkern-Erbgut eines männlichen Exemplars aus dem Nordpazifik und verglichen dessen Sequenz mit der Zusammensetzung einer bereits vorliegenden Probe von einem nordatlantischen Tier. Ziel war die Ermittlung früherer Bestandsgrößen auf Basis von potenziellen Verwandtschaftsbeziehungen.

Die Wissenschafter wandten dazu die erst 2011 entwickelte PSMC-Methode an, die auf der Analyse von genetischer Vielfalt beruht. "Sogar ein einziges Individuum kann Informationen darüber liefern, wie seine Vorfahren miteinander verbunden waren", erklärt Projektleiter Alan Rus Hoelzel von der britischen Durham University im Gespräch mit dem STANDARD. Man müsse nur die Zusammensetzung von möglichst vielen verschiedenen, parallelen Genabschnitten im doppelt angelegten Chromosomensatz untereinander vergleichen, sagt Hoelzel. Je geringer die Vielfalt, desto kleiner war einst der Bestand.

Zusätzlich zur Zellkern-DNA beschaffte sich das Team auch Orca-Erbgut aus Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen. Das meiste dieses genetischen Materials wurde aus Knochen und Zähnen von Museumsexponaten gewonnen. "Es ist ziemlich schwer, damit zu arbeiten", betont Hoelzel. Mitochondriale DNA, kurz mtDNA, wird allerdings ausschließlich von der Mutter auf den Nachwuchs vererbt. Diese Eigenschaft ermöglicht zusätzliche Einblicke in die Entwicklung von Populationen und deren demografischer Dynamik.

Genetischer Flaschenhals

Die PSMC-Analyse erbrachte ein erstaunliches Resultat. Den relativ geringen Unterschieden in der genetischen Vielfalt von Schwertwalen nach zu urteilen, überlebten nur einige hundert Exemplare von Orcinus orca den Höhepunkt der letzten globalen Vereisung vor über 20.000 Jahren. Die detaillierten Ergebnisse wurden kürzlich im Fachjournal "Molecular Biology and Evolution" veröffentlicht. Laut den Berechnungen hielt die kritischste Phase rund 1600 Schwertwal-Generationen an. "Eine Generation dauert bei Orcas ungefähr 25 Jahre", erläutert Hoelzel. Mit anderen Worten: Die Spezies stand mehrere Millennia lang kurz vor dem Aus. Biologen bezeichnen ein solches Phänomen als "genetischen Flaschenhals".

Als mögliche Ursache für den Schwertwal-Schwund haben die Experten eine drastische Verringerung des Nahrungsangebots in Verdacht. Viele der heutigen Orca-Populationen leben in flachen, fischreichen Küstengebieten. Während des Weichsel-Glazials lagen viele solcher Lebensräume aber unter einer dicken Eisschicht und standen somit nicht zur Verfügung, wie Hoelzel erläutert. "Binnengewässer sind ein weiterer wichtiger Aspekt." Flüsse tragen Nährstoffe ins Meer und dienen als Kinderstube für Wanderfischarten wie Lachse. Doch auch viele Ströme waren verschwunden. Eine karge Welt für große Meeresräuber.

Die Eiszeit beeinflusste die Ozeane anscheinend auch in anderer Weise. In Sedimentproben aus dem Meeresboden vor der nordwestafrikanischen Küste wurden Hinweise auf erhöhte Wassertemperaturen und eine geringere Produktion von Biomasse gefunden. Vermutlich hatte die weltweite Klimaveränderung die kalte Kanaren-Auftriebsströmung geschwächt. Ähnliche Prozesse könnten auch in anderen Küstenregionen das Nahrungsangebot verringert haben, meinen Hoelzel und seine Kollegen. Das System des Benguelastroms scheint jedoch nicht wesentlich beeinträchtigt gewesen zu sein. Das südafrikanische Meeresgebiet blieb ein marines Schlaraffenland.

Meeressäuger in Bedrängnis

Der Vergleich von mitochondrialen Erbgut-Sequenzen zeigt auf, dass die Schwertwale die große Vereisung anscheinend genau dort überstanden. Die Proben südafrikanischer Tiere weisen weltweit die größte genetische Vielfalt auf. Dementsprechend stammen vermutlich alle heute lebenden Orcas von dieser ehemaligen Restpopulation ab. Es ist jedoch nicht ganz auszuschließen, dass weitere kleine Bestände anderswo überlebt haben, zum Beispiel an den Küsten von Australien und Neuseeland, sagt Alan Rus Hoelzel. Von dort habe man noch nicht genug mtDNA analysieren können.

Bleibt die Frage, ob der weitreichende, eiszeitbedingte Nahrungsmangel nicht auch andere Meeressäuger in Bedrängnis gebracht hat. Das sei durchaus wahrscheinlich, meint Hoelzel. "Auch Pottwale verfügen weltweit nur über eine sehr geringe genetische Vielfalt." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 20.8.2014)