"Es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot", heißt es in der Bibel. Die Felder rund um Donezk sind voll von Erschlagenen, und täglich werden es mehr. Der biblische Brudermord erfährt seine vervielfachte Neuauflage im Ostukraine-Konflikt, in dem sich Menschen, Ukrainer und Russen, gegenüberstehen, die Nachbarn, Freunde und Verwandte waren - und einander Brüder nannten.

Die Liebe ist in blinden Hass umgeschlagen, befeuert von den Medien und Nationalisten auf beiden Seiten. Der Artilleriebeschuss von Städten ist ein Verbrechen, egal, ob er von ukrainischen Militärs oder prorussischen Rebellen angeordnet wurde. Die Aktionen des radikalen Populisten Oleh Ljaschko, der mit den von ihm begangenen Entführungen und Misshandlungen noch in Videos prahlt, sind genauso verabscheuungswürdig wie das Gerede Wladimir Putins von einem "Neurussland", mit dem das stete Zündeln, aus russischer Sicht der "Krieg auf kleiner Flamme", in der Unruheregion gerechtfertigt wird.

Das Schlimmste ist, dass den Kains auf beiden Seiten keine Verurteilung widerfährt. Nationalist Ljaschko droht bei der Parlamentswahl mehr als 20 Prozent der Stimmen abzugreifen. Die Verehrung für Putin und Milizenführer Igor Strelkow ist in Russland fast grenzenlos. Betrauert werden nur die eigenen Verluste, die Abels der anderen werden nicht gezählt. (André Ballin, DER STANDARD, 18.8.2014)