Ein sportlich nur mittelmäßig begabter Typ-1-Diabetiker fasste eines Tages den mutigen Entschluss, an einem Halbmarathonlauf teilzunehmen. Laufend, wenn nötig gehend oder sogar auf allen Vieren: Er wollte unbedingt ins Ziel kommen und der Welt zeigen, dass auch er an seine Grenzen und darüber hinausgehen kann.
Die behandelnde Ärztin schlug in Kenntnis seiner körperlichen Konstitution die Hände über dem Kopf zusammen und verlangte ein langsames Aufbautraining, regelmäßige Zuckerkontrollen, aber auch die Dokumentation der Daten in einem Tagebuch, das er führen sollte - wenigstens bis zum Rennen. Schwankungen des Blutzuckers könnte man so besser nachvollziehen und die Therapie jederzeit anpassen.
Der Diabetiker nahm am Halbmarathon teil und kam - total erschöpft, aber mit sich selbst sehr zufrieden - ins Ziel. Natürlich benötigte er Gummibärchen und einige Süßgetränke, um bis zum Ende durchzuhalten. Körperliche Anstrengungen senken ja den Blutzucker und würden bei Zuckerkranken wie ihm ohne Gegensteuern mit zuckerhaltiger Ernährung und Getränken zu einer Hypoglykämie, also zu einem Blutzucker unter 50 mg/dl, führen. Dieses damit verbundene Gefühl, sich nicht konzentrieren zu können, diese Schweißausbrüche, dieses Herzrasen und Zittern: All das konnte er bei dieser sportlichen Herausforderung überhaupt nicht brauchen.
Wichtig für den Energiehaushalt
Noch vor zwanzig Jahren hätte er sich eine derartige Leistung niemals zugetraut: Damals bekam er nicht nur die Diagnose Diabetes mellitus, sondern auch ein Paket an Regeln, die es nun zu befolgen galt, um die unheilbare Erkrankung unter Kontrolle zu halten und keine der gefürchteten Spätschäden von zu viel Zuckerablagerungen davonzutragen.
Er hörte drohende Worte wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Netzhauterkrankungen, die zu Blindheit führen könnten. Er hörte von Nüchternwerten (90 bis 120 mg/dl), von Zielwerten beim Blutzuckermessen (80 bis 140 mg/dl), die man tunlichst zwei Stunden nach jeder Mahlzeit erreichen sollte, und von Kohlenhydraten in Broteinheiten, die man für seinen Energiehaushalt braucht, aber mit dieser Krankheit im Gepäck nur mittels künstlichen Insulins verarbeiten kann. Denn seine eigene Bauchspeicheldrüse konnte aufgrund eines Autoimmundefekts selbst kein Insulin mehr produzieren.
Lebenswandel ändern
Am Beginn der Erkrankung fühlen sich viele Neo-Diabetiker von so viel Informationen erschlagen, merken aber schnell, dass es anderen Leidensgenossen ähnlich geht. Die große Mehrheit der Typ-2-Diabetiker - 95 Prozent aller Zuckerkranken leiden an diesem Krankheitstyp - sollte nämlich weit mehr machen, als nur vor jedem kohlenhydratehältigen Essen Insulin zu spritzen: Bei Typ 2 wird zwar genügend körpereigenes Insulin produziert, es kann aber seine Wirkung nicht entfalten, der Zucker wird nicht ausreichend von den Gewebezellen aufgenommen. Die Patienten sind meist übergewichtig und ernähren sich ungesund.
Die große Herausforderung für Typ-2-Diabetiker heißt: Lebenswandel ändern, abnehmen und Sport machen. In vielen Fällen lässt sich die Krankheit dadurch in den Griff bekommen. Den meisten Patienten fällt das aber schwer, deshalb müssen sie Medikamente nehmen, die die Aufnahme des körpereigenen Insulins unterstützen. Wenn das nicht hilft, folgt der Umstieg auf künstliches Insulin: "Dieser Schritt wird bei Typ-2-Diabetes je nach Alter, Zusatzerkrankungen und möglichen körperlichen Schäden ab einem Langzeitwert HbA1c von 7,5 Prozent empfohlen", sagt die Wiener Diabetologin Kinga Howorka.
HbA1c - noch so ein Wert, der das Leben für Diabetiker bestimmt: HbA1c ist der durchschnittliche Zuckergehalt des Blutes im Zeitraum von sechs Wochen vor der Blutabnahme. Eine Benchmark vor jeder Diabetikerblutabnahme: Ist er unter sieben Prozent und nicht durch zahlreiche Unterzuckerungen entstanden, dann ist der Befund zufriedenstellend.
Viel zum Rechnen
Einen Vorteil haben Typ-1-Diabetiker: Sie müssen keine Diät befolgen und nur vor jedem Essen mit Kohlenhydraten die entsprechenden Broteinheiten in Insulineinheiten umrechnen. Da kann man sich manchmal verschätzen, deswegen sollte man zwei Stunden nach dem Essen jedenfalls kontrollieren, ob man wieder im Zielbereich (meistens 80 bis 140 mg/dl) ist oder ob man mit weiterem Insulin oder mit Zucker gegensteuern muss.
Ein oberes Broteinheitenlimit gibt es nicht. Michael Roden, wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Diabetes Zentrum (DDZ), schränkt ein: "Man darf so viele Broteinheiten zu sich nehmen, wie man will. Es sei denn, man nimmt dadurch zu." Wem es also nicht zu sehr auf die Figur schlägt, der dürfte mit der richtigen Insulinmenge vorab sogar Eiscreme essen.
So unterschiedlich wie das Handling des Diabetes, ist auch die Diagnose: Anzeichen für Diabetes-Typ 1 sind Gewichtsabnahme, Durst, unerklärliche Erschöpfungszustände und häufiges Wasserlassen. Typ 2 tritt hingegen schleichend in Erscheinung und wird eher zufällig bei Routineuntersuchungen diagnostiziert. Nur der Zuckerbelastungstest sagt in beiden Fällen gleich viel aus: Unbehandelte Diabetiker haben immer, egal welchen Typs, über 200 mg/dl zwei Stunden nach dem Austrinken von 75 Gramm verflüssigtem Traubenzucker. Auch knapp darunter sollten die Alarmglocken läuten. Normal ist laut Howorka alles um 80 mg/dl, denn das peilt die Bauchspeicheldrüse wie ein Hochleistungscomputer im gesunden menschlichen Körper an.
Normalisierung der Werte
Wer nach der Blutabnahme schließlich die endgültige Diagnose erhält, fragt sich erst einmal, wie sich die Blutzuckerwerte auf das bei Gesunden normale Level bringen lassen. Davon raten Fachärzte aber ab. Howorka sagt, dass das "außer in der Schwangerschaft weder leicht durchführbar, noch wirklich notwendig ist." Sie empfiehlt anfangs eine "strenge Einstellung" des Blutzuckers und langfristig einen Durchschnittsblutzuckerwert unter 140 beim Typ 2 und unter 160 mg/dl beim Typ 1.
All das klingt immerhin so, als würde das Kontrollieren und Nachjustieren der Blutzuckerwerte allein reichen, um jedem Diabetiker ein langes Leben zu garantieren. Es ist aber nur eine Voraussetzung. Auch der Blutdruck und das "böse" Cholesterin (LDL) sollten niedriger als bei gleichaltrigen Nichtdiabetikern sein. Fachärzte raten sogar zu entsprechenden Medikamenten, wenn die Zielwerte nicht anders erreicht werden. Man dürfe die Blutgefäße nicht zusätzlich belasten. Mit dem Zucker hätten sie schon genug zu tun.
Der Diabetikeralltag wird also durch Regeln bestimmt. Der Halbmarathonläufer hat sich aber bewiesen, wie individuell man damit umgehen kann. Nach dem Zieleinlauf trank er mit einem Freund drei Bier. Der Erfolg musste begossen werden. Dass er wegen der Kohlenhydrate im Bier mehr Insulin spritzte, passierte auch in der Euphorie automatisch. So erreicht man Ziele (Peter Illetschko, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)