Bin ich dick? Wer der Weltgesundheitsorganisation Glauben schenkt, bekommt vom Body-Mass-Index (BMI) rasch und einfach Antwort: Man teile das Körpergewicht (in Kilogramm) durch die Körpergröße (in Metern) zum Quadrat. Ab exakt einem BMI von 25, so definiert die WHO, handle es sich um Übergewicht, ab einem BMI von 30 um Fettleibigkeit. Der Bereich des "Normalen" erstreckt sich auf die Spanne zwischen 18,5 und 25.
Globaler Siegeszug
Hinter der Einführung dieser Normierung stand die Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit, Krankheiten wie Diabetes oder einen Herzinfarkt zu erleiden, mit steigenden BMI-Werten zunehme. Die Formel selbst war bereits 1832 vom belgischen Mathematiker Adolphe Quetelet entwickelt worden, tauchte Anfang der 1970er-Jahre wieder in Publikationen auf und startete Ende der 1990er-Jahre ihren Siegeszug um die Welt - nicht zuletzt durch die Übernahme des BMI durch US-Lebensversicherungen, die die Einstufung benutzten, um ihre Prämien zu berechnen.
20 Jahre später wird der "richtige" BMI als allgemeingültiger Heilsbringer zunehmend kritisiert. Aktuelle Studien wie die der US-Statistikerin Katherine Flegal, die Daten aus 97 Einzelstudien analysierte, wollen sogar das Gegenteil belegen, nämlich dass die Sterblichkeit bei Übergewichtigen mit einem BMI zwischen 25 und 30 niedriger liegt als bei Normalgewichtigen. Hat der BMI also ausgedient? Die Wahrheit liegt im Detail.
Böses Bauchfett
"Es gibt kein Schlaganfallzentrum in Österreich, das den BMI ausrechnet" , sagt Wilfried Lang, Vorstand der Abteilung für Neurologie und Neurologische Rehabilitation am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. In der Praxis werde aber natürlich auf das Körpergewicht geachtet. "Es gibt fünf Lebensstilmaßnahmen, die ich jedem empfehle: nicht rauchen, körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, Alkohol nur in kleinsten Mengen und eben das Normalgewicht". Unter Normalgewicht versteht er die Körpergröße in Metern minus einen Meter, also etwa bei einer Größe von 1,78 Metern 78 Kilogramm.
Übergewicht tritt häufig mit anderen Risikofaktoren kombiniert auf: "Zusätzlich zum Übergewicht findet man häufig hohen Blutdruck und Insulinresistenz. Diese Kombination nennt man metabolisches Syndrom", erklärt Lang und ergänzt: "Viele Entzündungsvorgänge im Körper hängen mit der Fettverteilung zusammen. Wir wissen, dass das Bauchfett das schlimmste ist."
Diese Meinung vertritt auch Bernhard Ludvik, Stellvertretender Leiter der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel am Allgemeinen Krankenhaus in Wien: "Seit etwa zehn, fünfzehn Jahren liegt der Fokus stärker auf dem Fett im Bauchraum. Dies korreliert mit anderen Risikofaktoren wie Diabetes, Fettstoffwechselstörungen und löst systemische Entzündungen und Arteriosklerose aus", so der Diabetesexperte. Das Augenmerk gehe also weg von der Betrachtung des BMI und hin zum Bauchumfang. "Es gibt aber noch zu wenig epidemiologische Studien mit Bauchumfangsdaten", so Ludvik.
Kaum erforscht
Der BMI sei als alleiniger Richtwert nicht genug: "Es gibt Leute mit einem BMI von 24, die Bluthochdruck und Diabetes haben", sagt er. Andererseits: "Frauen mit einem BMI von 25 bis 30 und keinen anderen Risikofaktoren haben eine normale Lebenserwartung. Ich warne vor Crashdiäten, weil gerade Frauen nicht dort abnehmen, wo sie wollen, sondern Muskelmasse abbauen."
Der Anteil der Muskelmasse am Körpergewicht wird beim BMI nicht beachtet. "Natürlich ist bei Sportlern die Verteilung von Muskel- und Fettgewebe anders, das muss man berücksichtigen", so Lang. Auch die Differenzen zwischen Männern und Frauen in Bezug auf den BMI seien zu wenig erforscht: "Da gibt es rein wissenschaftlich noch zu wenige Studien", sagt Lang. Auch in Bezug auf genetische Unterschiede greife der BMI zu kurz: "Dabei muss man die Unterschiede zwischen Europa und Asien beachten. Dort ist vielleicht schon ein BMI von 23 ein Problem, in Europa erst ab 25", erklärt Ludvik.
"Das Risiko für einen Gefäßverschluss ist in Europa viel höher als in Asien", ergänzt Lang: "Etwa 85 von 100 Schlaganfällen treten in Europa infolge eines Gefäßverschlusses auf. In Asien sind es viel mehr Gehirnblutungen. Das hängt mit den unterschiedlichen Blutgerinnungsfunktionen zusammen. In Europa war mit der Eiszeit die Gefahr, nach einem Sturz zu verbluten, viel größer als in Asien. Deswegen haben Europäer eine höhere Blutgerinnung, aber auch eine gesteigerte Thromboseneigung. Selbst jetzt, wo wir nicht mehr auf Gletschern herumrutschen, spielt dies genetisch noch eine Rolle."
Darüber sagt der BMI natürlich nichts aus. Ebenso wenig wie bei Geschlecht und Herkunft unterscheidet er beim Alter. Ein Versäumnis, das nach und nach ausgeräumt wird: "Wenn wir die Raucher exkludieren, gibt es eine lineare Beziehung zwischen Übergewicht und Diabetesrisiko bis zum 65. Lebensjahr", erklärt Ludvik.
Gnadenlose Ausgrenzung
Manchmal, und auch das belegen Studien, führt Übergewicht zu einer höheren Lebenserwartung: "Das sogenannte Adipositas-Paradoxon meint, dass Menschen mit einem hohen BMI zwar ein höheres Risiko haben, an Diabetes, Herzinsuffizienz oder Arteriosklerose zu erkranken. Bereits an Herzinsuffizienz erkrankte Personen oder Dialysepatienten mit einem erhöhten BMI haben aber paradoxerweise eine höhere Lebenserwartung als normalgewichtige Patienten. Das mag an erhöhten Energiereserven liegen", erklärt Ludvik, fügt aber hinzu: "Die größte Lebenserwartung haben noch immer die, die schlank sind."
Es gelte aber: "Besser fit und fett als schlank und unfit", so Ludvik und ergänzt: "Die wichtigste Determinante für die Lebenserwartung ist Fitness. Wir müssen uns verabschieden von einer reinen Betrachtung des BMI." Ganz trennen will er sich nicht: "Prinzipiell braucht man Messgrößen, um zu kategorisieren, was krank beziehungsweise noch gesund ist. Ich schätze, dass rund 50 Prozent der Bevölkerung in Österreich über dem Normalgewicht liegen, Fettleibigkeit betrifft rund elf Prozent."
Kritischer sieht der Philosoph Robert Pfaller Normierungsversuche wie den BMI: "Man muss sich wohl eingestehen, dass unsere Gesellschaft insgesamt immer weniger Abweichung toleriert. Zwar gibt sie sich aufgeschlossen etwa bei sexueller, ethnischer oder religiöser Diversität, aber dafür werden zum Beispiel rauchende Menschen oder auch Dicke immer gnadenloser ausgegrenzt", sagt er.
Und rückt den BMI in einen aktuellen Zusammenhang: "Der Anpassungsdruck steigt auch in dem Maß, in dem Arbeitsplätze knapper werden. Die Angst, irgendwie von der Norm abzuweichen, ist größer geworden. Auch im ästhetischen Empfinden sind Menschen kaum noch fähig, Besonderheiten als Reiz zu empfinden. Die Nase der Kleopatra, für den Philosophen Blaise Pascal noch ein Beispiel für das 'gewisse Etwas', wäre heute nur noch eine Kandidatin für die kosmetische Chirurgie." (Tanja Paar, DER STANDARD, 19.8.2014)